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Leide ich unter einem Helfersyndrom?



Helfen ist schön und gut, aber manchmal übertreibe ich es auch mal. Was steckt dahinter? Und hat Helfen nicht auch etwas mit Egoismus zu tun?


Seit ich schon denken kann, möchte ich gerne anderen helfen. Mein Stiefvater war damals womöglich ausschlaggebend dafür. Er war Alkoholiker und brauchte vor allem, wenn er betrunken war, jemanden zum reden. Meist war ich das. Ich hörte mir seine Sorgen und seinen Kummer an, versuchte ihn zu trösten und zu helfen. Aber ich fühlte mich hilflos, weil es einfach nichts brachte. Egal, wie oft ich für ihn da war, es ändere sich nichts an seiner Lage. Et trank weiter, hatte alles vergessen, was wir beredeten, wenn er wieder nüchtern war. Ich konnte ihn einfach nicht retten. Nach vielen gescheiterten Therapien trennte sich meine Mutter von ihm und er war aus meinem Leben verschwunden. Vor einiger Zeit ist er gestorben und ich fühlte mich schuldig, weil ich ihn damals nicht retten konnte. Seitdem versuche ich, wann immer es geht, anderen zu helfen.

Das hat sich auch bei meinen Freunden weitergezogen. Ich bin immer diejenige, die anderen zuhört, wenn sie mich brauchen. Schon immer war ich es, die für andere da war, die zuhörte, eine Schulter zum Weinen gab, ein offenes Ohr hatte. Ich war und bin immer der Kummerkasten für alle gewesen. Und ich fand es toll, war stolz darauf, dass ich etwas für andere sein und ihnen damit helfen konnte.

In den letzten Jahren hat meine Hilfsbereitschaft noch mehr zugenommen, nicht nur bei meinen Freunden. Inzwischen möchte ich auch der Umwelt helfen, bin daher ehrenamtlich bei Greenpeace dabei. Ich kümmere mich ehrenamtlich um einen Migranten und helfe ihm, Deutsch beizubringen. Außerdem habe ich eine Selbsthilfegruppe gegründet. Und obwohl das schon recht viel ist, will ich irgendwie noch mehr. In der Corona-Zeit habe ich mich als ehrenamtliche Einkaufshilfe angeboten. Derzeit überlege ich, ob ich auch bei einem Online-Portal als Kummerkasten und Beraterin tätig sein will. Mein Bedürfnis, andere zu helfen, scheint unermesslich zu sein. Es wird einfach auch nicht weniger, sondern mehr. Ich bin immer wieder am Suchen, wie ich noch mehr helfen kann.


Aber warum helfe ich denn nun gerne anderen Menschen?


Darauf gibt es wohl viele mögliche Antworten. Vielleicht gibt es nicht DIE eine Antwort darauf, alle zusammen ergeben für mich die ganze Wahrheit dahinter.


Ich mag es gebraucht zu werden

Mich bereichert das ungemein, wenn andere mit Problemen zu mir kommen. Ich habe das Gefühl, dass ich ihnen dadurch etwas bedeute, wichtig für sie bin. Das ist für mich auch eine Art Wertschätzung meiner Person.


Ich fühle mich besser

Ja, es ist wirklich so. Ich fühle mich gut, wenn ich anderen helfen kann. Es bereitet mir einfach Freude, weil ich etwas für jemand anderen bewirke. Es tut auch mir gut. Wenn ich anderen helfen kann und sie glücklicher sind, bin ich es auch.


Ich will ein besserer Mensch werden

Das Helfen ist für mich eine Chance, um ein noch besserer Mensch zu werden. Schließlich tue ich etwas Gutes, es sollte mehr Positives in der Welt geben. Irgendwo denke ich, dass ich dadurch meine negativen Eigenschaften kompensieren kann.


Es steigert mein Selbstwertgefühl

Das Helfen bestätigt meinen Eigenwert. Ich bin nett, hilfsbereit, freundlich, das versuche ich durch das Helfen noch einmal zu beweisen. Jemand, der anderen hilft, muss einfach ein guter Mensch sein. Meist bekommt man auch Dankbarkeit, Wertschätzung, Anerkennung zurück. Auch das gibt mir das Gefühl, ein guter Mensch zu sein und dass ich viel Wert bin.


Ich kann mich in andere sehr gut hineinversetzen

Die Hilfsbereitschaft kommt vor allem aus der Empathie heraus. Jemand, der nicht empathisch ist, würde anderen wahrscheinlich auch nicht helfen und nicht sehen, dass Not besteht. Ich schreibe mir eine große Empathie zu. Ich kann mich gut in andere hineinversetzen, glaube zu wissen, was sie denken und fühlen. Natürlich weiß ich es nicht, aber ich kann es erahnen. Ich kann mich in Gesprächen vollkommen auf andere einlassen, stelle mich gerne nach hinten, höre aktiv zu ohne selbst etwas sagen zu müssen. Ich kann es kaum ertragen, andere leiden zu sehen. Wenn jemand weint, muss auch ich weinen. Ich kann da sehr gut mitfühlen. Entsprechend möchte ich das Leid des anderen beenden, möchte, dass er wieder glücklicher wird. Das ist wohl auch einer der wichtigsten Gründe fürs Helfen.


Ich bewirke etwas

Ich habe das Gefühl, dass ich damit meine Bestimmung gefunden habe. Helfen begleitet mich mein Leben schon und ich denke, dass ich das auch weiterhin machen will. Auch wenn es nur etwas Kleines ist, ich erreiche doch allein mit Zuhören, unterstützen, Ratschläge geben sehr viel. Allein schon für jemanden da zu sein, kann dem anderen schon viel bedeuten. Ich versuche zum einen an Problemen anderer zu arbeiten oder wenigstens neue Denkansätze zu geben. Ich habe das Gefühl, damit schon einiges zu erreichen, sei es auch noch so klein. Ich denke, dass ich ein besserer Miteinander fördern kann, indem wir mehr aufeinander Acht geben, mehr zuhören und füreinander da sind. Für mich ist es auch etwas total Sinnvolles. Schließlich sind wir von Menschen umgeben, wir leben ständig zusammen, also warum nicht auch empathischer gegenüber anderen sein und mehr zusammen halten? Ich will gewissermaßen kleinere Nöte beseitigen und für Lebensfreude bei anderen Menschen schaffen.


Ich mag Menschen und bin gerne mit ihnen zusammen

Ich gebe zu, dass ich echt sehr gerne mit anderen Menschen zusammen bin, trotz meiner früheren sozialen Phobie. Inzwischen bin ich gerne in Gruppen aktiv und möchte das nicht missen. Ich mag Menschen an sich schon und bin auch den meisten wohlgesonnen. Ich gehe meist davon aus, dass andere nett sind und nur Gutes wollen. Wobei das etwas im Widerspruch zu meiner Menschenunfreundlichkeit bezüglich der Umweltkrise steht. Aber das ist noch einmal ein anderes Thema. Außerdem liebe ich es mich mit anderen auszutauschen und vor allem viel zuzuhören. Das bereichert mich mehr als nur das Reden. Weiterhin liebe ich es, tiefgründige Gespräche vor allem eben doch über Probleme zu führen. So lerne ich Menschen noch viel besser kennen, wenn ich auch in deren Herz schauen kann. Mich fasziniert ohnehin auch das Psychologische, weswegen ich wohl auch gerne anderen Menschen helfen will. Ich lerne, andere besser zu verstehen, indem ich mehr erfahre. Sich zu helfen, stärkt auch die Bindung zueinander und das ist es, was ich anstrebe: Echte Bindungen, die Höhen und Tiefen halten. Ich finde es toll, dass mich das Helfen näher an andere Menschen bringt. Es schweißt auch ungemein zusammen, wenn man gemeinsam durch solche Tiefen geht.


Ich will für andere einfach da sein, wenn sie jemanden brauchen

Weil ich weiß, wie es ist, allein zu sein und niemanden zu haben, dem man seine Probleme anvertrauen kann, möchte ich, dass es wenigstens anderen Menschen nicht so geht. Niemand soll allein sein, sondern immer jemanden haben, der für ihn da ist. Gemeinsam können wir stärker sein und Probleme leichter überwinden.


Ich will Dankbarkeit erfahren

Ich gestehe, dass ich es auch sehr mag, wenn ich etwas wieder zurückbekomme, Stichwort Eigenwert. Aber es fühlt sich eben auch toll an, wenn man durch das Helfen auch belohnt wird. Das berührt mein Herz, wenn mir jemand wirklich dankbar ist und das auch zeigt. Ich freue mich sehr darüber.


Ich liebe es Erfahrungen und Tipps zu teilen

Beim Helfen kann ich anderen auch etwas von mir mitteilen, ich kann ihnen helfen, indem ich meine Gedanken, Erfahrungen und Gefühle weitergebe. Ich liebe es generell auch einfach mehr zu geben, als zu nehmen. Das bringt mir einfach viel mehr. Es ist toll, wie ich anderen durch Mitgefühl, Zuhören, Empathie, Verständnis, Akzeptanz und mehr helfen kann.


Ich bin einfach gerne hilfsbereit

Ich bin einfach ein Mensch, der nett und freundlich ist und helfen kann, wo er kann. Ich kann es manchmal nicht erklären, es ist einfach mein Charakter. Ich kann einfach nicht anders und könnte mir nicht vorstellen, mal nicht hilfsbereit zu sein. So mag ich mich am liebsten und das definiert mich dann doch sehr.


Ich halte es für wichtig und richtig

Wir leben zusammen, also sollten wir versuchen, gut miteinander klarzukommen, aber vor allem eine enge Gemeinschaft zu bilden. So hilft jeder jedem. Ich habe nie Zweifel daran, jemandem zu helfen, wenn er es denn will und auch braucht. Das ist für mich einfach selbstverständlich.


Ich stelle andere gern über mich selbst

Tatsächlich stelle ich mich öfter mal unter andere, denke, sie sind wichtiger als ich selbst, was natürlich nicht richtig ist. Aber ich opfere mich schon gerne auf, wenn es denn sein muss oder stelle meine Bedürfnisse hinten an, um andere da zu sein.


Leide ich vielleicht an einem Helfersyndrom?

Laut Wikipedia versteht man darunter "die Neigung einer Person, sich in zwischenmenschlichen Begegnungen überwiegend als Helfer anzubieten." Bedürfnisse wie Bestätigung, Sozialkontakt oder gesellschaftliche Anerkennung hängen so sehr von Dank, Zuwendung und Bestätigung ab, dass die Hilfsbereitschaft immer noch nicht abnimmt, wenn die Hilfe nicht gebraucht wird. Der Helfer würde sich durch Selbstaufopferung zugehörig fühlen und seinen Eigenwert bestätigen.
Einige Dinge stimmen schon. Ich habe ein geringes Selbstwertgefühl und beziehe dieses daraus, anderen zu helfen. Aber andere Punkte passen nicht. Ich dränge meine Hilfe nicht auf und sehe meine Grenzen. Meine eigenen Wünsche beachte ich schon. Allerdings ging es mir als Kind oft so, dass ich mich nur für wertvoll hielt, wenn ich Anerkennung von anderen bekam und ich für sie wichtig war.


Helfen aus Egoismus?

Ich frage mich, ob das Helfen nicht für mich selbst egoistische Gründe hat. Tatsächlich sind da einige Gründe, die darauf hindeuten: Ich will von anderen gemocht werden. Ich will mich besser fühlen. Ich will gebraucht werden. Ich will dadurch an Bedeutung gewinnen. Ich liebe es, wenn andere etwas von mir wollen. Ich genieße es, wenn sie mir dafür dankbar sind. Beim Helfen kommt meistens auch.

Den wahren Grund hinter meinem Helfer-Bedürfnis zu finden, geht am besten durch ein einfaches „Warum“.

Warum will ich anderen helfen?
Weil ich mich dann als guter Mensch fühle, wäre eine mögliche Antwort.
Warum will ich mich so fühlen? Weil es ich es nicht bin.
Warum bin ich kein guter Mensch? Weil es noch so viele Mängel bei mir gibt, weil ich mich minderwertig fühle.
Warum fühle ich mich minderwertig? Weil ich früher nie das Gefühl bekommen habe, so gut zu sein, wie ich bin. Weil ich nie das Gefühl gehabt habe, akzeptiert zu werden.
Warum wurde ich nicht akzeptiert? Weil ich minderwertig bin.

Warum will ich anderen helfen?
Weil ich gerne von anderen gebraucht werde. Warum?
Weil es sich anfühlt, als könnte ich etwas bewirken, als wäre ich wichtig. Warum?
Weil ich mich ansonsten nutzlos und wertlos fühlen würde. Warum?
Weil ich nichts leiste und tue.

Ihr seht also, dass womöglich ein Selbstwertdefizit dahinter stecken könnte, was ich mit dem Helfen ausgleichen will. Es ist schon fast übertrieben, wie sehr ich anderen helfen will. Beim Helfen geht es zwar eigentlich eher um die anderen, aber da steckt auch sehr viel drin, was mich bewegt und womit ich noch immer Probleme habe. Es ist immer noch ein Mangel an Selbstwertgefühl und Selbstliebe. Mit dem Helfen anderer will ich beweisen, dass meine Existenz einen Sinn hat. Ich bin nicht nutzlos oder minderwertig, ich kann etwas erreichen, indem ich anderen helfen kann. Ich bin für andere nützlich, indem ich viel gebe. Ich habe Stärken, die ich für andere nutzen kann. Ich bin kein schlechter Mensch, schließlich helfe ich doch anderen. So schlimm kann ich gar nicht sein.

Was Helfen mit Selbstwertmangel zu tun hat

Das eigentliche Problem ist nun, dass ich mit dem Helfen, meinen Selbstwert irgendwie von anderen abhängig mache. Ich nutze die Schwäche und Probleme anderer, um mich selbst sozusagen besser zu fühlen. Das klingt total absurd, aber irgendwie steckt doch Wahrheit drin. Nicht, dass ich anderen Schlechtes wünsche und sie leiden sehen will. Aber wenn eben keine Hilfe gebraucht wird, wie kann ich da noch nützlich sein? Wenn ich nicht etwas ehrenamtlich mache, nichts für die Welt und Menschen tue, was bin ich dann? Ich definiere mich sehr über das, was ich tue. Auch beim Helfen wird mir das wieder bewusst. Ich mache mich abhängig von anderen Menschen. Ich sehne mich danach, von ihnen gebraucht zu werden, ich brauche ihre Wertschätzung und Dankbarkeit. Nur dadurch kann ich mich selbst wertschätzen. Nur so fühle ich mich wie ein besserer Mensch. Kurz gesagt: Nur wenn ich für andere etwas tue, bin ich etwas wert und ein guter Mensch. Doch wenn ich eben nicht gebraucht werde und niemanden helfen kann. Dann wäre ich im Umkehrschluss also nichts wert.

Das Problem ist dabei, dass ich meinen Wert über mein Tun und Handeln definiere, was ja nicht so gut ist. Doch Selbstwertgefühl und Selbstliebe sollte nicht davon kommen, sondern von dem, was ich bin. Darum geht es doch. Und das fällt mir noch immer schwer, wie ich festgestellt habe. Mich so zu nehmen, mich so zu mögen, ohne, dass ich immer etwas leisten und Gutes tun muss. Ich bin auch so ein toller Mensch, aber mir das einzureden, ist nicht leicht. Ich kann es nicht glauben, ich muss immer erst beweisen, dass ich es würdig bin. Und das ist eben der große Knackpunkt.

Mir ist bewusst, dass Helfen zwar gut ist, aber eben auch Schattenseiten hat. Ich habe erkannt, dass ich mehr an meinem Selbstwertgefühl arbeiten und es mehr aus mir herausschöpfen muss. Und dass es wichtig ist, auf sich zu achten und seine Grenzen zu kennen und das Helfen auch nicht zu übertreiben.


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