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Wenn Positivität toxisch sein kann


Optimisten haben es leichter im Leben. Eine positive Einstellung kann schon helfen, Hindernisse, Probleme und Krisen besser zu bewältigen. Doch wie bei allem, kann man es auch mit der Positivität übertreiben...

In unserer heutigen Gesellschaft werden Glück und Zufriedenheit immer mehr in den Fokus gestellt. Scheinbar ist das so ziemlich das größte Ziel, was wir alle erreichen wollen und auch sollen. Es ist schon wahr: Wer positiver durchs Leben, schaut auch mehr auf die positiven und schönen Dinge, erfreut sich an den kleinen Glücksmomenten. Wer positiv eingestellt ist, zieht sehr wahrscheinlich auch das Positive mehr an. Optimisten finden immer etwas Gutes auch im Schlechten. Das kann schon sehr hilfreich sein, um eben Probleme zu lösen oder auch Krisen durchzustehen und am Ende stärker zu werden.

Verkehrt finde ich eine positive Grundeinstellung nicht unbedingt. Es motiviert einen, eben den Blick auf das Positive zu legen, sich auch mehr zuzutrauen, weil man davon ausgeht, dass es schon irgendwie gut werden wird.

An Optimismus und Positivität habe ich an sich auch nichts auszusetzen, solange alles im Rahmen bleibt.


Gut gemeint ist nicht gut gemacht

Doch seit einiger Zeit macht sich ein anderes Phänomen breit, was ziemlich bedenklich ist: toxische Positivität. Den Begriff selbst kannte ich bis vor Kurzem noch gar nicht, was dahinter steckt, gibt es schon viel länger: Toxische Positivität meint das krampfhafte, zwanghafte Festhalten an positivem Denken und guter Laune um jeden Preis. „Good vibes only“, ein oft gelesener Spruch auf sozialen Medien, trifft den Kern der Sache sehr gut. Nur das Positive ins Leben lassen, nur positiv sein, bloß nichts Negatives zulassen, das könnte ja jegliche Glückseligkeit zunichte machen.

Es gibt noch einige harmlos aussehende Sätze, die jedoch alle eben toxische Positivität widerspiegeln:

So schlimm ist das doch nicht!“

Kopf hoch, das wird schon wieder!“

Anderen geht es viel schlechter als dir!“

Schau doch mal auf das, was du hast und sei darüber dankbar.“

Es werden schon wieder bessere Zeiten kommen.“

Nach Regen folgt Sonne.“

Die Zeit heilt alle Wunden.“

Was haben all diese Sätze gemeinsam? Sie sind alle sicherlich gut gemeint. Man sieht jemanden leiden und will am liebsten sofort helfen. Schnelle Lösungen müssen her. Das erste, was vielen einfällt, sind eben solche Phrasen. Mit den Sätzen soll aufgemuntert werden, der Blick soll weg vom Negativen auf das Positive gelenkt werden.

Mit solchen Sätzen schaut man gar nicht, was derjenige nun wirklich gerade will und braucht.Vielleicht will derjenige in Not gar nicht aufgemuntert werden und auch nicht an etwas anderes Positives denken. Mit solchen Sätzen erzeugt man nur Distanz zum Gegenüber, wirkliches Verständnis, echte Verbundenheit kann dadurch nicht entwickelt werden.

Menschen, denen es schlecht geht, weil sie gerade Probleme haben, arbeitslos geworden sind oder jemanden verloren haben, fühlen sich mit solchen Phrasen überhaupt nicht besser. Sie fühlen sich missverstanden, nicht wirklich mit ihrem Leid gesehen. Gleichzeitig fühlen sie sich unter Druck gesetzt: Sie müssen ganz schnell wieder happy sein, dann wird auch alles wieder gut. Außerdem erzeugt toxische Positivität auch den Eindruck, dass negative Gefühle nicht sein dürfen.

Mit solchen positiven Sätzen schützen sich diejenigen auch davor, wirklich mitzufühlen beziehungsweise gegebenenfalls mitzuleiden. Man will ja selbst nicht runtergezogen werden.

An und für sich ist es schon nachvollziehbar, warum die Gesellschaft doch eher dazu geneigt ist, nur das Positive sehen zu wollen: Negatives ist halt nicht so toll. Wer möchte schon gern traurig, wütend, enttäuscht oder verletzt sein? Wer will schon gern Schmerzen haben und leiden? Die meisten von uns meiden Schmerz und streben nach Wohlbefinden. Wir wollen doch alle eigentlich nur glücklich sein und am liebsten gar nichts mehr Negatives in unser Leben lassen. Alles total verständlich und auch sehr menschlich.

Doch wer immer nur gute Laune haben will und krampfhaft versucht, positiv zu denken, verliert irgendwann sich selbst und natürlich die Verbindung zu sich. Positiv sein wird zum Zwang und ist nicht mehr authentisch.

Solche Sätze sind sehr bedenklich und eben giftig: Sie zwingen zum positiven Denken, lassen keinen Raum, um sich mit den nicht so schönen Gefühlen auseinanderzusetzen.


Negatives gehört auch zum Leben und hat einen Sinn

Negatives gehört aber einfach zum Leben dazu. Ohne das Negative, ohne all die negativen Gefühle, ohne Leid und Schmerz wüssten wir gar nicht, was positiv wäre, was uns guttut. Es gibt immer mindestens zwei Seiten einer Medaille. Ohne das eine, kann es das andere nicht geben. Wir würden das Positive nicht wertschätzen, es nicht einmal kennen, wenn eben das Negative nicht gibt.

Ein anderer Punkt wäre noch: Das Negative ist ja per se nicht negativ. Gefühle, die wir als Menschen als negativ werten – also solche wie Wut, Angst, Trauer, Enttäuschung – haben ja eine Funktion. Die sind nicht ohne Grund da und wollen uns ja nicht mit Absicht schlecht fühlen lassen. Sie haben immer einen Sinn, den es zu ergründen gilt. Sie sind wichtige Hinweise für tieferliegende Probleme, unerfüllte Bedürfnisse und Wünsche, mit denen wir uns befassen sollten.

Jede negative Emotion hat eine wichtige Funktion, will uns etwas sagen: Wut entsteht meist dadurch, dass unsere Grenzen verletzt werden, vielleicht merken wir auch, dass unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Insofern hilft uns Wut, diese Grenzen und Bedürfnisse wahrzunehmen und dafür einzustehen und uns somit auch von anderen abzugrenzen.

Trauer ist unter anderem wichtig, um Verluste zu verarbeiten. Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, brauchen wir Zeit, um den Verlust zu verarbeiten. Es braucht Trauerarbeit, um zu lernen, loszulassen und um über den Verlust hinwegzukommen.

Angst zeigt uns, wo wir noch innere Widerstände haben, wo unsere Baustellen liegen. Für mich ist Angst immer ein Zeichen, dass es da noch etwas gibt, woran ich arbeiten kann. Angst will uns vor Gefahren warnen und uns schützen, darum verleitet uns dieses Gefühl, gewisse Dinge nicht zu machen. Doch heutzutage geht es gar nicht mehr um wirkliche lebensbedrohliche Gefahren. Meist sind es irrationale Ängste oder solche, die wir durchaus bewältigen können, wenn wir nur wollen. Angst ist für mich etwas, was es zu überwinden gilt und wodurch ich stärker werde. Sich mit dem Gefühl von Angst zu befassen, hilft mir, gewisse Glaubenssätze und Blockaden zu lösen, die mich an der eigenen Selbstentfaltung hindern.

Wenn wir krampfhaft versuchen, diese Gefühle durch positive zu ersetzen, werden wir die tieferliegenden Probleme und tieferen Bedürfnisse niemals erfahren und uns damit nicht auseinandersetzen. Und damit nehmen wir uns die Möglichkeit, innerlich zu wachsen. So unangenehm es auch ist, sich mit negativen Gefühlen auseinanderzusetzen: Wir brauchen sie im Leben und in allen steckt auch die Chance, etwas über uns zu erfahren und uns zu verändern. Insofern steckt auch in unangenehmen Gefühlen durchaus etwas Positives, was wir jedoch erst erkennen, wenn wir diese Gefühle zulassen und verarbeiten.

Diese Gefühle dürfen sein, sie dürfen und sollten gefühlt werden, doch wir sollten uns nicht mit ihnen identifizieren. Nur weil wir diese Gefühle fühlen, bedeutet es nicht, dass wir uns von ihnen bestimmen lassen müssen. Wir müssen nichts kaputt machen oder jemanden verletzen, nur weil wir wütend sind. Wir haben es in der Hand, wie wir mit den Gefühlen umgehen.


Gefühle finden immer ihren Weg nach draußen

Und nur weil wir diese Gefühle jedoch nicht wahrnehmen und verdrängen, bedeutet das nicht, dass sie weg sind. Verdrängte Gefühle stauen sich an, wenn wir ihnen keinen Raum geben. Irgendwann ist das Maß voll und dann platzen diese „unerwünschten“ Gefühle einfach aus uns raus. Oder sie machen sich anderweitig bemerkbar, indem wir Krankheiten oder andere körperliche Beschwerden entwickeln. Gefühle, die keinen Raum bekommen, machen uns also auf lange Sicht tatsächlich krank, wenn wir nicht auf sie hören und sie nicht annehmen.

Ein weiterer Effekt von toxischer Positivität: Man verliert irgendwann auch einfach die Verbindung zu sich. Man verliert den Bezug zu seinen Gefühlen, nicht nur zu den negativen. Denn wenn wir negative Gefühle nicht mehr zulassen, nimmt nicht nur deren Intensität ab, sondern auch die der positiven. Man stumpft emotional ab, die Gefühle nehmen an Tiefe ab. Im schlimmsten Falle fühlt man irgendwann gar nichts mehr, emotionale Leere macht sich breit. Keine so schöne Vorstellung, oder?

Ich kann verstehen, dass sich viele nicht mit negativen Gefühlen befassen wollen und sofort nach Lösungen suchen, um sich wieder besser zu fühlen. Das ist total normal und menschlich. Negative Gefühlen können sehr belastend sein. Natürlich soll man sich nicht in Selbstmitleid suhlen und sich von den negativen Gefühlen total vereinnahmen lassen. Das wäre auch ein falscher Ansatz. Doch die andere Richtung, gar keine negativen Gefühle mehr zuzulassen, kann auch nicht gut sein. Beides macht auf Dauer krank.

Indem wir unangenehme Gefühle vermeiden, berauben wir uns selbst wichtiger Lebenserfahrungen. Nämlich der Erfahrungen, dass wir gerade mit diesen Gefühlen ein erfüllteres und reiches Leben führen können. Jede negative Erfahrung macht uns stärker, sie lehrt uns etwas. Jedes Mal, wenn wir erfolgreich mit unangenehmen Gefühlen klarkommen, werden wir widerstandsfähiger. Wir wachsen an diesen Gefühlen, an Problemen und Krisen. Und wir lernen mit der Zeit, mit diesen unangenehmen Gefühlen zurechtzukommen.


Am Ende bleibt zu sagen: Es ist okay, mal nicht okay zu sein. Wir dürfen uns alle erlauben, uns mal nicht gut zu fühlen. Wir müssen uns nicht zwingen, uns wieder schnell besser zu fühlen. Wir dürfen alle mal traurig, enttäuscht, wütend, verletzt und ängstlich sein. Das darf alles sein, das ist menschlich.

Toxische Positivität als Norm sollte hinterfragt werden. Stattdessen: Negative Gefühle erkennen, sie nicht verdrängen, sondern wahrnehmen und ihnen Raum geben lassen, ihnen auf den Grund gehen. Und lasst uns öfter über sie reden. Ich glaube, dass das Reden über unangenehme Gefühle helfen kann, sie besser zu verstehen, mit ihnen umzugehen und sie zu verarbeiten.

Wenn man jemanden vor sich hat, dem es nicht gut geht: Dann auf keinen Fall wegschauen oder versuchen, mit gut gemeinten Phrasen aufzumuntern. Stattdessen für die Person da sein, ihr zuhören, Fragen stellen, versuchen zu verstehen. In Erfahrung bringen, was die Person braucht. Und wenn es nur Schweigen ist, dann ist das auch okay.

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