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Ambivalenzen: Das innere Hin und Her

 

Ich bin von Ambivalenzen, von Widersprüchlichkeiten geprägt. Immer wieder hin- und hergerissen. Und das macht mich manchmal wahnsinnig.

Mir ist klar, dass wir Menschen alles andere als einfach sind. Wir sind echt komplexe Wesen. Und auch wenn wir noch so klug sind und logisch denken und handeln wollen – wir tun es oftmals nicht. Ich bin ein Paradebeispiel dafür. Vieles was sich in mir abspielt, meine Gedanken, Gefühle, und auch mein Verhalten sind alles andere als rational. Sie sind sehr ambivalent. Ich bin ein Mensch, der von Widersprüchlichkeiten geprägt ist.

Ich liebe meine Routinen und die Sicherheit, obwohl es die im Leben gar nicht wirklich gibt. Gleichzeitig langweilen mich die Tätigkeiten, die sich ständig wiederholen, die Tage, die den vorherigen gleichen. Gleichzeitig sehne ich mich nach Abenteuer, nach Abwechslung, will Neues erfahren und entdecken. Doch vor ganz großen Veränderungen habe ich auch Angst. Denn sie bringen meine Sicherheit in Gefahr, an der ich so festhalte.

Ich will mich gern verändern, weiter entwickeln. Doch ich will mir trotzdem auch treu bleiben und an dem Leben festhalten, was ich jetzt so lieb gewonnen habe.

Am meisten wird mir meine Ambivalenz bewusst, wenn ich mir mein Bedürfnis nach Nähe und Distanz anschaue, besonders jetzt, da ich noch frisch verliebt in einer noch jungen Beziehung bin.

Anfangs wollte ich Distanz haben, meine Eigenständigkeit, mein eigenes Leben um jeden Preis verteidigen, bloß alles vermeiden, damit ich ja nicht mit ihm verschmelze. Mich bloß nicht zu sehr fallen lassen, nicht zu sehr mein Herz öffnen, nicht so intensiv lieben.

Doch ein Teil von mir sehnte sich auch nach viel Nähe und vermisste ihn immer dann am meisten, wenn es Zeit für mich war zu gehen. Weil ich mir selbst die Grenze gesetzt habe. Weil ich unbedingt an meiner Eigenständigkeit festhalte.


Zwischen Nähe und Distanz

Als ob es in mir ein anhängliches Ich und ein sehr eigenständiges Ich gäbe, die sich beide immer wieder mal streiten. Mittlerweile verbringe ich viel mehr Zeit mit ihm als am Anfang und fühle mich gut damit. Doch sobald der Gedanke aufkommt, noch mehr Zeit miteinander zu verbringen, sich jeden Tag zu sehen, gehen meine Alarmglocken an: Nein, das kannst du nicht tun! Du brauchst Zeit für dich und du solltest auch deinen Freiraum haben. Dahinter steckt die Angst, miteinander zu verschmelzen, mich selbst aufzugeben, weil ich mich in der Liebe verliere. Ich hatte tief in mir drinnen die Sorge, dass ich vielleicht zu abhängig werde. Ich wollte nicht zu dem Menschen werden, der nicht mehr ohne den Partner sein kann. Der nur noch alles mit dem Partner macht.

Gleichzeitig empfand ich die Idee, so verrückt nach dem anderen zu sein, dass man am liebsten nur noch mit dem anderen zusammen ist, sehr romantisch. Ich beneide noch immer diese Paare, die unzertrennlich sind, sozusagen zu einer Einheit verschmolzen sind. Und schaue gleichzeitig auch verächtlich auf diese Paare, vielleicht weil ich weiß, dass ich das nicht haben werde. Und aus dieser Verachtung und dem Neid erwächst gewissermaßen Protest. Ich lehne solche Beziehungen ab, so etwas will ich nicht. Obwohl sich ein Teil von mir doch danach sehnt. Wieder zwei widersprüchliche Seelen in meiner Brust.

Am Anfang der Beziehung liebte ich mit Handbremse, wollte nicht zu verliebt sein. Das hat sich inzwischen gebessert. Und doch gibt es immer wieder Momente, in denen ich zwischen naiver Verliebtheit und emotionaler Distanziertheit schwanke. Zu letzterem tendiere ich immer dann, wenn es zwischen uns etwas kriselt, wenn meine Bedürfnisse nicht gesehen und meine Erwartungen nicht erfüllt werden. Dann werde ich aus meiner Verliebtheitsblase herausgerissen und sehe, dass nicht alles so toll ist, wie gedacht. Das ist sehr ernüchternd. Gefühle ändern sich und wechseln je nach Tag und Stimmungslage. Das ist irgendwo auch total normal. Und doch ist es etwas befremdlich für mich, diesen verschiedenen Gefühlen ausgesetzt zu sein. Mal bin ich sehr verliebt, in Gedanken nur bei ihm und dann gibt es Momente, in denen ich nichts fühle, mich abgrenzen will und auch frustriert mit ihm bin. Und dann nehme ich Abstand von meiner Verliebtheit, beginne sie zu hinterfragen. Vielleicht ist das auch eine Art emotionaler Schutzschild, um mich vor Verletzungen zu schützen.

Immer dann, wenn ich mich eigentlich am meisten nach Wertschätzung, Verbundenheit und Liebe sehne, agiere total widersprüchlich. Wenn ich mir Nähe wünsche, dann suche ich sie nicht, spreche es nicht aus und fordere das nicht ein, sondern flüchte und schaffe Distanz. Für mich ist Ignorieren ein Mittel, zum zu zeigen, dass ich sauer und enttäuscht bin. Doch Distanz schafft nicht Nähe, sondern nur mehr Distanz. Auch so eine widersprüchliche Sache.

Und wenn ich die Nähe bekomme, wenn sie greifbar ist, dann lehne ich sie. Dann will ich sie doch nicht. Wenn ich etwas nicht kriege, dann will ich es. Doch wenn ich es dann bekomme, bin ich zu stolz, um es anzunehmen. Das ist eine der vielen ambivalenten Züge an mir.

Ich will eigentlich nur Harmonie. Doch im Streit vergesse ich das und bin in Kampfbereitschaft. Obwohl ich weiß, dass ich es nicht durch mein Verhalten besser mache und eigentlich besser wüsste: Ich gebe mich meinen destruktiven Verhaltensweisen und Gefühlen hin und mache aus Kleinigkeiten ein Drama. Um meiner Wut und meinem Frust Luft zu machen.

Auch beim Sex gibt es so einige Widersprüchlichkeiten. Einerseits liebe ich es, mich komplett fallen zu lassen und die Kontrolle abzugeben. Ich genieße den harten Sex, aber gleichzeitig habe ich mich frühere Male etwas leer dabei und danach gefühlt. War es nicht das, was ich wollte? So richtig sicher war ich mir danach nicht mehr? Was will ich eigentlich? Da erst kam mir Gedanke, dass ich von Ambivalenzen geprägt bin.

Ich sehne mich nach tiefen Freundschaften. Nach echter Verbundenheit. Doch gleichzeitig will ich die Menschen, die ich als Freund*innen bezeichne, nicht zu nah an mich ranlassen. Bloß nicht zu viel Zeit miteinander, nicht zu oft sehen oder hören, nicht alles mit ihnen teilen. Ich bin nicht dazu bereit, mehr Zeit in diese Beziehungen zu investieren.

Ich bin an sich ein sehr positiver Mensch, der viel lächelt und lacht. Besonders in Gegenwart anderer Mensch Doch tief in mir drinnen steckt auch eine sehr melancholische Seite. Die kommt immer nur dann wirklich zum Vorschein, wenn ich allein bin. Dann überkommt mich eine Traurigkeit, die ich teilweise nicht erklären kann. Eine bittersüße Traurigkeit. Ich lausche trauriger Musik und fange an zu weinen. Ganz automatisch. All das gehört zu mir. Meine lebhafte fröhliche Art, genauso wie meine melancholische Seite.

Ich bin an sich ein sehr ruhiger und introvertierter Mensch. Doch die Gesellschaft anderer zieht mir keine Energie, vielmehr blühe ich dabei auf. Ein Tag ohne Menschen ist für mich ein verlorener Tag. Ich genieße es, mit anderen zusammen zu sein. Gleichermaßen bin ich aber auch gern mal für mich. Genieße das Alleinsein ohne mich einsam zu fühlen. Und bin öfter auch mal in meiner Gedankenwelt versunken. Was bin ich denn nun? Introvertiert? Extrovertiert? Oder beides? Ambivertiert? Das gibt es auch. Ich bin weder das eine noch das andere, eher eine Mischung aus beidem. Und so geht es vermutlich vielen von uns. Wir können uns selbst nicht immer ein Label verpassen oder andere in Schubladen stecken. Das wäre zu kurz gedacht. Dafür sind wir alle einfach viel zu komplex.


Warum dagegen wehren?

Vielleicht widerstrebt uns es, Widersprüchlichkeiten zuzulassen. Weil wir als Menschen einfach darauf gepolt sind, in Kategorien zu denken. Unser Denken sehnt sich nach Einfachheit und Eindeutigkeit. Widersprüchlichkeiten, Paradoxien und auch Ambivalenzen fordern unser Denken heraus, machen uns irre, beschäftigen uns immer wieder.

Wir kommen erst zur Ruhe, wenn wir uns festgelegt, uns entschieden haben. Wenn wir wissen, was los ist.

Doch das Gefühl, Ambivalenzen ausgesetzt zu sein, fühlt sich ein wenig so an, als wäre man in der Schwebe. Als ob man zwischen zwei Polen hin und her schwingen würde. Nicht zur Ruhe kommt, weil es einen immer wieder mal zu einer Seite und dann wieder zu einer anderen Seite zieht. Stetige Bewegung, die kein Ende nimmt. Ich sehne mich danach, anzukommen und endlich zur Ruhe zu kommen.


Kognitive Dissonanz

In der Psychologie gibt es übrigens den Begriff „kognitive Dissonanz“. Dabei handelt es sich um einen negativen Gefühlszustand, der durch nicht vereinbare oder sogar sich gegenseitig ausschließende Wahrnehmungen ausgelöst wird. Das können widersprüchliche Gefühle, Wünsche, Ziele, Einstellungen, Meinungen und Gedanken sein.

Ein Beispiel: Ich nehme mir vor, auf Schokolade zu verzichten, um abzunehmen. Doch statt mich daran zu halten, verfalle ich wieder in „alte“ Muster und nasche ständig. Das löst bei mir Frust und eben diese kognitive Dissonanz aus. Mein Verhalten entspricht nicht meinen Zielen. Wir sind bestrebt, diese Dissonanzen aufzulösen und das auf unterschiedliche Art und Weise. Eine Möglichkeit wäre, das Verhalten an die Ziele anzupassen, um die Widersprüche aufzulösen. Also keine Schokolade mehr zu essen, damit ich abnehmen kann. Ich kann aber auch meine Gedanken und Ziele an mein Verhalten anpassen und mir sagen: Scheiß drauf, das klappt eh nicht mit Abnehmen. Oder: Ich gönne mir das mal ausnahmsweise und werde das mit dem Abnehmen verschieben.

Wenn wir genau wissen, dass uns etwas nicht gut tut oder unseren Werten und Zielen widerstrebt und wir es dennoch tun. Es ist ein Widerspruch zwischen Wünschen und der eigentlichen Realität, dem Verhalten, was wir an den Tag legen.

Da wir rational veranlagt sind, versuchen wir diesen Widerspruch, der für uns nicht logisch ist, irgendwie zu lösen oder zu begründen, damit es logisch wird. Und wir uns nicht mehr schlecht fühlen.


Wir müssen uns nicht festlegen

Was bleibt mir übrig? Wie komme ich damit zurecht?

Widersprüchlichkeiten gibt es nun einmal. Und wir sind alle sehr widersprüchlich. Vieles an und in uns ergibt einfach keinen Sinn. Ich würde gerne verstehen, warum das so ist. Aber manchmal bringt selbst die größte Sinnsuche nicht das erwünschte Erfolg. Was bleibt ist Ratlosigkeit, Verwirrtheit, ein großes Fragezeichen.

Das gehört zum Leben dazu. Widersprüchlichkeiten müssen wir lernen auszuhalten. Wir wollen Antworten auf große Fragen. Bekommen sie aber nicht immer. Es wird immer widersprüchliche Impulse in uns geben. Je mehr wir uns dagegen wehren, desto mehr lehnen wir auch uns selbst ab.

Was hilft also? Akzeptieren. Den Drang loslassen, alles zu analysieren, alles erklären zu wollen, eine eindeutige Antwort zu finden. Den Drang loslassen, sich nur für Entweder-oder zu entscheiden. Das ist nicht leicht. Doch oftmals gibt es nicht nur die eine Wahrheit, richtig oder falsch. Oftmals liegt der Schlüssel in der Akzeptanz des Sowohl-als-auch. Alles ist okay. Widersprüchliche Tendenzen dürfen bestehen bleiben, ohne, dass sie sich ausschließen. Denn sie ermöglichen gleichzeitig auch viele neue Perspektiven, erweitern den Horizont. Doch dazu müssen wir die Ambivalenzen wahrnehmen und uns für sie öffnen.

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