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Angst davor, sich Hilfe zu suchen

Eigentlich dachte ich, ich bräuchte es niemals. Viele Jahre habe ich es quasi auf die lange Bank geschoben. Daran gedacht: Ja, man könnte es mal probieren. Aber lange Zeit verdrängte ich es, dachte ich käme allein klar. Ich habe es all die Jahre doch auch ohne professionelle Hilfe geschafft. Doch jetzt weiß ich: Ich brauche eine Therapie doch mehr, als ich dachte.
 
Es ist viel Mist in meiner Kindheit und Jugend passiert. Familiäre Probleme, ein alkoholkranker Stiefvater, emotionaler Terror und Missbrauch, depressive Phasen, Selbsthass, Selbstmordgedanken, soziale Phobie, sich selbst ständig fertig machen, Einsamkeit, die Scheidung meiner Eltern. Alles Dinge, die ich jahrelang mit mehr allein ausgemacht habe. Dinge, die nie wirklich aufgearbeitet worden sind. Ich habe damals einen Weg gefunden, damit klarzukommen. Habe lange Zeit geschwiegen, alles in mich reingefressen, angefangen mich zu ritzen. Mich noch mehr gehasst und Möglichkeiten gesucht, damit fertigzuwerden.

Bis ich irgendwann mich selbst ändern wollte, mich aus dem tiefen Loch rausziehen wollte. Ich wollte so nicht mehr länger leben, wollte nicht länger so ein toxisches Leben führen. Und das klappte auch. Das Leben wurde besser, ich begann, wieder Lebensfreude zu spüren. Ich öffnete mich, vertraute mich Menschen an, gewann neue Freunde. Die Tage waren nicht mehr grau und dunkel, sondern wurden von mal zu mal immer heller und bunter. Ich lernte, mit all diesen Problemen umzugehen. Ließ dieses dunkle Kapitel hinter mich. Ich wurde langsam zu einem anderen Menschen, meine Wunden fingen an zu heilen. Doch die Narben blieben trotzdem. Bis heute. Es ist ein Teil meiner Lebensgeschichte geworden. All das hat mich geprägt und zu dem Menschen gemacht, der ich jetzt bin.

Ich weiß nicht, ob ich dafür dankbar bin. Manchmal denke ich mir, es wäre besser gewesen, wenn ich diesen ganzen Scheiß nie erlebt hätte. Doch dann wiederum weiß ich auch, dass mich das alles auch stärker gemacht hat. Auch wenn es viele Momente gab, in denen ich so verletzlich war und innerlich gebrochen.

Jahre später und mein Leben ist ein ganz anderes. Ich führe ein ganz normales Leben. Trotz all dieser Scheiße von damals ist etwas aus mir geworden. Ich habe einen ordentlich Job, stehe mit beiden Beinen im Leben. Habe einen tollen Partner an meiner Seite, viele Freund*innen, ein Zuhause, in dem ich mich wohlfühle. Bin ehrenamtlich aktiv, gehe meinen Hobbys nach. Mir geht es körperlich gut und auch seelisch. Besser denn je. Kaum vorstellbar, dass es vor etwa 15 Jahren ganz anders aussah. Solch ein Leben, wie ich es jetzt führe, hätte ich mir damals nicht vorstellen können.

Ich dachte, ich hätte meine dunkle Vergangenheit hinter mich gelassen. Aber ich habe mich geirrt. Selbst jetzt so viele Jahre später, scheint noch immer etwas da zu sein. Und das sollte mich nicht wundern. Die Erfahrungen, die man als Kind gemacht hat. Die bleiben auch. Ein Leben lang. Die beeinflussen mich, die prägen mich.


Du wirst deine Vergangenheit niemals los

All das, was damals nicht aufgearbeitet wurde, was da zwischen mir und meinem Stiefvater passiert ist. All das kommt jetzt mit voller Wucht wieder zurück. Ich merke es immer wieder, wenn ich mich mit meinem Partner, den ich so sehr liebe streite. Ich merke es in nur in diesen Situationen, in denen ich mich wieder abgelehnt, zurückgewiesen und ungeliebt fühle. Da merke ich: Da ist noch etwas aus der Vergangenheit, was nachhaltig bis heute auf mich wirkt.

Ich kann meine Augen nicht mehr länger davor verschließen. Es nützt nichts. Ich habe so lange gekämpft, habe mich auf das Hier und Jetzt beschränkt. Dachte, es ist auch mal gut, wenn man seine Vergangenheit hinter sich hat. Dann muss ich da nicht mehr ran. Ich komme doch so gut klar gerade. Meistens stimmt das auch. Aber in den Momenten, in denen es um mein Innerstes geht, meine Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle – da merke ich, dass die Vergangenheit eben doch nicht abgeschlossen ist, noch nicht ruht. Nicht, bevor ich mich den Dämonen meiner Kindheit und Jugend stelle.

Ich dachte, ich führe ein normales Leben, komme gut klar. Probleme kriege ich allein gelöst. Das ist vermutlich auch der Grund, warum ich mir damals nie Hilfe gesucht habe. Immer alles mit mir ausgemacht habe. Es kam mir nie in den Sinn, jemals Hilfe zu suchen. Ich war eh allein und meine beste Freundin, die einzige, die davon wusste, kam auch mit sich und ihrem Leben nicht klar. Auch sie holte sich nie Hilfe. Und wenn keiner sonst weiß, wie es mir geht. Wie soll dann mich jemand auch aufbauen und stärken, mir Hilfe zu suchen?

Ich hatte es damals nicht auf dem Schirm, vielleicht wusste ich es nicht mal. Oder dachte, dass es so schlimm nicht sein kann. Aber die Wahrheit umfasst noch mehr: Ich hatte Angst, mich jemanden anzuvertrauen, Angst, jemandem davon zu erzählen. Mir fehlte der Mut. Und vielleicht dachte ich wirklich, dass ich niemanden damit belasten wollte. Ich wollte es allein schaffen, mir selbst etwas beweisen.


Hilfe suchen bedeutet Schwäche

Nicht zu schwach sein. Sich Hilfe zu suchen ist doch ein Zeichen von Schwäche. Ich musste als Kind immer stark sein. Stark sein für Mama, die es nicht mehr mit meinem Stiefvater aushielt, die innerlich auch so gebrochen war. Stark sein für meinen Stiefvater, der doch nichts dafür konnte, dass er dem Alkohol nicht entsagen konnte. Der doch auch nur ein gebrochener Mann war, der Hilfe brauchte. Ich fühlte mich so hilflos, aber dachte, ich dürfte mir das nicht anmerken lassen.

Ich schluckte immer alles herunter, obwohl es mich so sehr belastete, obwohl ich eigentlich ständig nach Hilfe schrie. All meine Selbstverletzungen und auch meine Selbstmordgedanken – das waren alles Hilferufe, die doch niemand wahrnehmen wollte. Was ich mit Worten nicht vermitteln konnte, musste ich durch meine Wunden und Narben zeigen. Nur so hielt ich das alles aus, all den Schmerz, der sich in den Jahren anstaute.

Während ich das hier schreibe, muss ich immer wieder weinen. Die Erinnerungen von damals wühlen mich noch heute so sehr auf, berühren mich zutiefst. Da ist noch nichts wirklich verarbeitet. Ich habe öfter darüber mit anderen gesprochen, mit meinen Liebsten. Aber nie mit der Person, die es am meisten betroffen hatte: meine Mutter. Wir haben nie darüber gesprochen, wie es uns damals ging. Haben alles für uns behalten. Und da merke ich, dass ich meiner Mutter ähnlicher bin, als ich es zugeben will. Wir sind beide Alleinkämpfer, auf uns gestellt, so war es schon immer. Und darum fiel es uns so schwer, Hilfe zu suchen.

Warum habe ich mir nie Hilfe gesucht?

Eine Frage, die ich mir seit einiger stelle, ist: Warum habe ich mir damals nie Hilfe gesucht? Ich kann nur noch rückblickend mutmaßen. Aber vielleicht waren das alles Gründe, warum es nie passiert ist.

Und warum fällt es mir auch heute so schwer, Hilfe zu suchen? Weil nach wie vor der Glaubenssatz so stark in mir wirkt: Du musst es allein schaffen. Du kriegst das hin. Du kannst dich nur auf dich verlassen.

Das ist das Eine. Und das andere: Angst. Ich habe schlichtweg Angst davor, mir Hilfe zu suchen. Eine Therapie anzufangen. Warum? Weil ich Angst davor habe, was die Therapeutin vielleicht finden wird. Ich habe Angst davor, dass es mehr als das ist, was ich schon weiß. Dass ich vielleicht unter etwas richtig schlimmem leide. Dass sie zu tief bohrt und dass es zu schmerzhaft wird.

Mein glückliches Leben bekommt Risse?

Ich habe Angst davor, diagnostiziert zu bekommen, dass ich nach wie vor psychisch krank bin. Das ist meine allergrößte Sorge. Das würde mein komplettes Selbstbild total umwerfen, zerstören. Ich habe immer geglaubt, dass ich jetzt wieder psychisch gesund bin. Ich funktioniere, mir geht es doch die meiste Zeit sehr gut. Ich habe kaum Probleme. Nur eben kleine Alltagssorgen. Aber die hat jeder. Ich bin so wie jeder normale Mensch auch.

Doch eine Diagnose könnte all das komplett in Frage stellen.

Ich weiß, dass ich viel Mist erlebt habe, aber ich habe es alles überwunden. Eine Diagnose würde aber bedeuten, dass das überhaupt nicht stimmt. Ich glaube, dass das die größte Sorge für mich darstellt. Ich habe Angst davor, mein komplettes Leben in Frage zu stellen.

Aber wäre das wirklich so? Dass ich ein paar psychische Probleme habe, einen Knacks durch meine Vergangenheit weg habe, das ist doch klar. Das weiß ich doch auch. Wer so etwas erlebt hat, wird nie wieder komplett psychisch gesund. Der wird immer die Narben mit sich tragen. All das hat mich doch geprägt.

Wenn du ein weißes Blatt Papier zusammenknüllst, auf den Boden schmeißt, darauf herumtrittst, es schmutzig machst. Dann ist es doch klar, dass es nie wieder so sein wird, wie es vorher mal war. Wir alle sind keine weißen unbeschriebenen Blätter mehr. Wir alle tragen unseren Ballast mit uns. Unsere emotionalen Rucksäcke sind gefüllt, wir schleppen sie alle mit uns durchs Leben.


Lass die Diagnose nicht dein Leben bestimmen

Jetzt, da ich weiß, warum ich so eine Angst davor habe, in Therapie zu gehen, komme ich endlich weiter. Ich nehme diese Ängste, aber sie sollen mich nicht daran hindern. Ich will mich meinen Ängsten stellen.

Denn, was ich vor allem jetzt gelernt habe, ist, dass meine Diagnose mich nicht bestimmt. Dass wir ihr keinen zu großen Stellenwert geben sollten. In vielen Gesprächen sowohl mit Freund*innen, die selbst in Therapie sind, sowie mit einer Therapeutin selbst, habe ich gelernt: Eine Diagnose sagt eigentlich nichts über dich als Menschen aus. Ich sollte mich damit nicht zu sehr identifizieren. Sie kann dir ein wenig über dich erzählen, aber lass dich davon nicht in eine Schublade stecken. Du bist mehr als das! Nur weil du eine Borderline-Diagnose hast, bist du nicht nur Borderliner. Nur weil du soziale Phobie hast, bist du nicht nur einfach ein Mensch mit Phobie.

Diagnosen können Orientierungen geben, aber sie sollen eben keinen Rahmen bilden, dich nicht einschränken. Und vor allem nicht als Ausrede für deine Symptome stehen. Oder als Erklärung für Verhalten, was einfach nicht geht. Ja, sie können dazu führen, dass dich Menschen eher verstehen. Aber wir sind alles so komplexe Menschen. Lasst uns nicht allein auf eine Diagnose reduzieren.

Ich hätte den Fehler beinahe getan, als ich mein Erstgespräch hatte und die Therapeutin prompt eine Diagnose stellte, mir aber gleichzeitig beschrieb, wie das zustande kommt. Dass man Diagnosen nicht allzu ernst nehmen sollte, vor allem, wenn es die erste ist.

Es mag Dinge geben, die zutreffen, aber bei weitem nicht alle. Und wir müssen jetzt nicht nach Details suchen, um Hinweise zu finden, dass dieses Krankheitsbild zu mir passt.

Ich fand das gut, was mir die zweite Therapeutin erzählte, als ich sie nach der Diagnose fragte. Sie stellt grundsätzlich keine bzw. teilt sie nicht sofort mit. Nur wenn jemand explizit danach fragt. Denn es kommt nicht auf die Diagnose an, sondern auf die eigentlichen Probleme. Diagnosen schränken zu sehr ein, sodass man das eigentliche Problem, was nicht in die Diagnose passt, ausblendet. Und ich finde, das klingt auch plausibel. Es soll doch hier nicht um Diagnosen gehen oder dass wir Menschen in Schubladen stecken. Sondern die Einzigartigkeit anerkennen und auf die individuellen Probleme eingehen und nicht auf Diagnosen herumreiten.

Sich Hilfe zu suchen ist ein Zeichen von Stärke

Was mir meine beiden Erstgespräche bei den Therapeutinnen gezeigt hat: Eine Therapie muss nicht schlimm und unangenehm sein. Zwar habe ich noch keinen festen Therapieplatz. Und klar ist eine Therapie noch mal etwas anderes als die Erstgespräche, wo es nicht mal so richtig zur Sache geht. Therapie ist nicht Wellness, es ist harte emotionale und mentale Arbeit. Und es wird oftmals einen sehr fertig machen und anstrengend sein. Aber es lohnt sich. Das weiß ich von den Freund*innen, die allesamt schon Therapieerfahrungen gemacht haben.

Ich bin stolz darauf, dass ich den Schritt gewagt habe. Dass ich überhaupt akzeptiert habe, dass ich Hilfe brauchte. Dafür hat es so viele Jahre gebraucht, dass ich das wirklich angenommen habe. Sich Hilfe zu suchen – das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von wahrer Stärker. Es erfordert sehr viel Mut und auch Vertrauen in einen anderen Menschen. Sich diesem zu öffnen, sich seinen Problemen wirklich zu stellen. Das ist wahre Stärke.

Ich habe gemerkt, dass es so hilfreich sein kann, mit jemanden darüber zu sprechen, der eben Ahnung hat. Das sind andere Gespräche als die mit meinen Freund*innen, auch wenn diese auch heilsam sein können. Aber sie bringen mich eben doch nicht weiter, wie ich es gern hätte.

Nach wie vor mache ich mir Sorgen, was die Therapeutin, die ich eines Tages haben werde, alles bei mir finden wird. Und vielleicht wird es etwas sein, was ich am liebsten verdrängen würde. Aber ich habe so lange dagegen angekämpft, so viele Jahre alles verdrängt. Es wird Zeit, dass ich mich all dem jetzt wirklich stelle.

Ich bin stolz darauf, dass ich das jetzt wirklich erkenne und aktiv etwas tue. Ich bin trotzdem nach wie vor stolz darauf, dass ich meinen eigenen Weg gegangen bin und dass ich einfach auch vieles allein geschafft habe. Meine soziale Phobie ist seit so vielen Jahren so viel besser. Das habe ich allein mir selbst zu verdanken, weil ich konsequent daran gearbeitet habe.

Eine Selbsthilfegruppe zu gründen und sich vor den anderen zu öffnen, war ebenfalls ein wichtiger Schritt. Sich jetzt Hilfe bei Therapeut*innen zu suchen der notwendige nächste Schritt.

Und wenn das, was ich dann bei der Therapie finde, eben etwas ist, was mich komplett durcheinander bringt. Dann soll es wohl so sein. Dann gilt es, es anzunehmen, auch wenn es hart ist. Aber vielleicht sollte ich mir da auch einfach nicht mehr zu viele Gedanken machen. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Die meisten Dinge, die man sich schlimm vorstellt, sind es meist auch nicht.

Ich lasse es auf mich zukommen und hoffe, dass sich das Warten lohnt. Inzwischen bin ich auf drei Wartelisten von Therapeutinnen und hoffe, dass es noch dieses Jahr gelingen kann, endlich eine Therapie zu starten.

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