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"Ich will Papa retten" - Wie mich die Parentifizierung geprägt hat

 

Ich leide schon immer unter einem sogenannten Helfersyndrom: Ich will ständig für andere da sein, ihnen helfen, gebraucht werden, mich nützlich machen. Das alles hat vermutlich ganz stark etwas mit meiner eigenen Vergangenheit zu tun. Nur hätte ich damals nicht gedacht, dass es alles im Rückblick so falsch gewesen ist. Das, was passiert ist, hätte niemals passieren sollen.

Es gibt so viele Dinge, die man eigentlich nie hinterfragt hat. Mein Helfersyndrom beispielsweise. Ich fand es eigentlich eher eine tolle Sache. Nicht jeder ist so hilfsbereit wie ich. Nicht jeder engagiert sich so sehr für andere wie ich. Dass damit einiges Problematisches zusammenhängt, war mir nicht bewusst. Was eigentlich dahintersteckt: Ich will nicht nur helfen, weil ich es gern tue. Weil ich es brauche. Weil ich es brauche, gebraucht zu werden. Nur dann glaube ich, bin ich auch etwas wert. Nur wenn ich gebe, bin ich jemand wertvolles. Nur dann. Sonst nicht. Gebe ich zu wenig, halte ich mich für einen nicht wertvollen Menschen. Ich muss mehr geben. Um das zu bekommen, wonach ich mich all die Jahre gesehnt habe: Liebe, Wertschätzung und Anerkennung. All das, was ich in meiner Kindheit so schmerzlich gesucht habe von einer Person, zu der ich ein so absurdes Verhältnis habe. Mein Stiefvater ist schon lange tot und trotzdem prägt er mich noch heute. Und ich hasse es.

Ich habe mich gefragt: Wann hat es angefangen, dass ich anderen Menschen helfen will. Eigentlich erst vor paar Jahren mit Anfang meines Studiums. Aber eigentlich auch schon viel früher. Damals schon war ich immer der Kummerkasten für meine Freund*innen, vor allem für meine damals beste Freundin. Ich war immer die Person, auf die man sich verlassen konnte. Immer die, die für alle da war, die immer zuhörte.


Woher kommt das Helfersyndrom?

Ich glaube, dass das noch früher passierte. Dass es nicht erst mit meinen Freund*innen anfing. Es fing mit meinem Stiefvater an. Er war alkoholkrank, kam einfach nicht damit klar. Und das war für meine Mutter und mich einfach unglaublich anstrengend. Nahezu täglich mussten wir uns damit auseinandersetzen. Es gab ständig Streit zwischen den beiden, der immer wieder eskalierte und bis heute auch meine Art des Streitens beeinflusst hat.

Auch mein Leben machte er zur Hölle. Indem er mich immer wieder psychisch attackierte, mir Dinge vorwarf, mich emotional erdrückte, mir die Luft zum Atmen nahm. Ich musste immer Angst davor haben, dass er wieder einmal sauer auf mich war und mich emotional fertig machen wollte. Es war der reinste Psychoterror.

In den Momenten hasste ich ihn unglaublich sehr. Doch das hielt meist nicht lange. Denn gerade dann, wenn er getrunken hatte, wurde er mit der Zeit auch wahnsinnig verletzlich und emotional. Vor mir war dann der gebrochene Mann, der er war. Einer, der sein Leben nicht mehr in den Griff bekam. Der Hilfe brauchte. Ob er das bewusst tat oder nicht – das kann ich heute nicht sagen. Aber ich wurde jedes Mal aufs neue schwach. Ich konnte nicht mehr sauer auf ihn sein. Mitleid kam auf. Mitleid für diesen Mann, der doch eigentlich nichts dafür konnte.


Wenn sich die Rollen verkehren

Und das waren immer die Momente, in denen alles kippte. In denen sich auch unsere Rollen verkehrten. Er war nicht mehr der starke Vater, der Verantwortung für sein Stiefkind hat, was sich bei ihm sicher und geborgen fühlte. Es war genau andersherum: Ich übernahm eine Art beschützende und stärkende Rolle, ich war diejenige, die sich ihm annahm, die ihm zuhörte, ihn stärkte und auffing. Er dagegen war einfach nur noch schwach und brauchte Hilfe von mir.

Und so entwickelte sich auch mein Wunsch, ihm zu helfen, ihn auf irgendeine Art und Weise zu retten. Ich glaubte, wenn ich für ihn da war, ihm zuhörte und gemeinsam nach Lösungen schaute, dann würde sich etwas ändern. Ich glaubte wirklich daran, dass ich ihn ändern könne. Dass er sich für uns ändern würde. Dass ich ihn retten könne. Wie falsch ich damals lag.

Ich fühlte mich verantwortlich für ihn, wollte alles tun, damit es ihm besser geht. Hielt all diese intensiven und so anstrengenden Gespräche mit ihm aus. Ich war damals ein Kind, selbst überfordert mit meinem eigenen Leben, hatte meine eigenen Probleme. Doch ich nahm mich seiner Probleme an. Ich teilte sein Leid mit ihm, in der Hoffnung, dass er weniger darunter zu leiden hat.

Heute weiß ich, wie falsch das damals war. Ich konnte es nicht wissen. Ich war nur ein Kind, was einfach nur das Beste für seinen Stiefvater wollte. Das ist allzu verständlich. Doch es geschah eben eine sogenannte „Parentifizierung“, also eine Rollenumkehr zwischen Elternteil und Kind.

Das war damals eine Last, die ich hätte nicht tragen sollen. Das war von ihm als Stiefvater einfach unverantwortlich.

Eigene Bedürfnisse zurückstellen

Ich habe meine eigenen Bedürfnisse hinten an gestellt. Es wurde nie gefragt, wie es mir damit geht. Niemand hat sich um meine Probleme gekümmert. Ich habe das alles nur mit mir selbst ausgemacht.

Stattdessen war ich immer für ihn, meinen Stiefvater, da, wenn er mich gebraucht hatte. Ich habe mich für ihn verantwortlich gefühlt. Er hatte damals schon mal vor uns eine Familie gegründet gehabt, aus der zwei Töchter hervorgegangen sind. Doch die Ehe zerbrach und die Familie brach den Kontakt nahezu ab. Nur wir sind noch übrig geblieben. Wenn er uns nicht mehr hat, ist er ganz allein. Dann hat er niemanden mehr.

In den Zeiten ist wohl mein Wunsch geboren worden, für andere da zu sein und ihnen zu helfen.

Vielleicht auch, weil ich ihm nie helfen konnte. Weil es einfach nicht geklappt hat, er sich keine Hilfe suchen wollte, es nicht schaffte.

Heute frage ich mich: Was hat das damals mit mir gemacht?

Ich bin zu einem sehr empathischen Menschen geworden, der andere gern unterstützt. Grundsätzlich eine gute Sache. Aber ich bin auch jemand geworden, dem es schwerfällt, Grenzen zu setzen. Der die Bedürfnisse der anderen über die eigene stellt.


Die Möglichkeit, an den unverfügbaren Vater zu kommen

Vielleicht war das damals für mich auch eine Möglichkeit, endlich an meinen unnahbaren Vater heranzukommen. Ich bekam sonst selten einmal Lob und Anerkennung von ihm. Von Liebe keine Spur. Dabei sehnte ich mich so sehr danach. Doch immer dann, wenn er mich brauchte, war ich für ihn da. Ich glaubte, dass ich so endlich das Gefühl bekäme nützlich und wertvoll zu sein. Vielleicht habe ich deswegen heute noch ein schwieriges Verhältnis dazu.

Ich habe es getan, weil ich mich nach einer emotionalen Bindung zu ihm sehnte, die ich sonst nie bekommen hätte.

Damals habe ich gelernt, dass ich nur geliebt werde, wenn ich mich auf die Bedürfnisse der anderen einstelle und etwas leiste. Nur dann habe ich Liebe verdient.

Und das macht auch das Helfersyndrom so problematisch. Nur wenn ich anderen helfe, bin ich wertvoll und liebenswert. Mein Selbstwert hängt davon ab, ob ich anderen helfe oder nicht, ob ich etwas sinnvolles tue oder nicht.

Aber das stimmt nicht: Ich bin auch wertvoll, auch wenn ich nichts leiste oder anderen helfe.

Dadurch ist vermutlich auch der hohe Leistungsdruck entstanden. Nur wenn ich absolut produktiv bin und was geschafft habe, bin ich etwas wert. Das ist etwas, was mich mein Stiefvater gelehrt hat. Etwas, was ich einfach nicht mehr abstellen kann.

Und vielleicht spüre ich heute diese Wut so oft, wenn ich mich mit meinem Partner streite. Eine Wut, sobald ich mich ungerecht behandelt fühle. Vielleicht ein Stück weit auch daher, weil meine Bedürfnisse als Kind auch ständig übergangen worden, vor allem von meinem Stiefvater.


Was ich früher noch nicht verstanden habe

Früher habe ich mich immer für alles verantwortlich gefühlt. Habe mich schlecht gefühlt, weil ich die Erwartungen meines Stiefvaters nicht erfüllen konnte. Aber heute weiß ich: Ich habe nichts falsch gemacht. Mir wurde unrecht getan. Ich durfte damals nicht wirklich Kind sein, unbesorgt leben, habe keine Geborgenheit und Sicherheit in meiner Familie erfahren. Wurde emotional quasi von meinem Stiefvater missbraucht, habe stark unter den Streitigkeiten meiner Eltern und der Trennung und Scheidung gelitten. Es war nicht einfach für mich.

Ich habe als Kind nichts falsch gemacht. Ich wollte alles richtig machen. Doch ich möchte meinem Stiefvater auch nicht als reinen Täter darstellen. Er hat es nicht aus Böswilligkeit getan, er wusste sich selbst nicht zu helfen. Und doch will ich ihn nicht in Schutz nehmen. Er hat seinen Teil dazu beigetragen, dass ich jetzt so bin ich wie bin mit all meinen Baustellen. Aber es nützt nichts, jemanden, der ohnehin nicht mehr lebt, Vorwürfe zu machen. Das bringt mich nicht weiter. Mir hat es geholfen mit dem Niederschreiben ein Stück meiner Vergangenheit aufzuarbeiten. Indem ich mich mit meiner Biografie auseinandergesetzt habe, kann ich mich selbst besser verstehe.

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