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Beziehung: Sollte ich immer radikal ehrlich sein?

In letzter Zeit frage ich mich immer wieder mal: Sollte man seinem Partner immer radikal ehrlich alles sagen, was man denkt, fühlt und getan hat? Sollte man ehrlich, um jeden Preis sein? Wann macht es Sinn und wann nicht?

 

Für mich ist klar: Ehrlichkeit ist schon sehr wichtig in einer Beziehung. Ehrlichkeit und Vertrauen – die beiden bilden die Basis, ohne die Beziehungen nicht funktionieren können. Gerade wenn es um Dinge geht, die für den Partner wichtig wären, über die er Bescheid wissen sollte, weil sie auch die Beziehung direkt tangieren oder überhaupt Dinge, die das Zusammenleben tangieren. Aber wo fängt Ehrlichkeit an und wo hört sie auf? Ist es wirklich entscheidend, wirklich alles alles zu sagen, was einen bewegt und was man tut? Ist es nicht manchmal besser, einfach nichts zu sagen?


Radikale Ehrlichkeit ist nicht immer angemessen

Ich denke, dass radikale Ehrlichkeit ein echt zweischneidiges Schwert sein kann. Ja, Ehrlichkeit kann gut sein, aber man sollte immer abwägen, inwiefern die Ehrlichkeit wirklich notwendig ist. Wann bringt es mir und meinem Partner etwas, wenn ich die Wahrheit sage. Oder besser gesagt: Wann sollte ich dem Partner wirklich etwas mitteilen und wann behalte ich es für mich?

Ich denke, dass man um Himmels Willen nicht immer 100 Prozent das sagen sollte, was man denkt. Und nicht alles muss unbedingt mit dem Partner geteilt werden. Da wäre auch der Aspekt der Privatsphäre zu nennen. Solange es meinen Partner nicht negativ beeinflusst oder auch die Beziehung, muss man es dem anderen doch nicht sagen, oder?

Ich denke da vor allem an die Male, in denen ich für einen anderen Mann geschwärmt habe oder mich fremdverliebt habe. Das ist nicht gerade so selten passiert. Habe ich das jedes Mal meinem damaligen Partner gesagt? Nein. Eigentlich nie. Ich wollte ihn damit nicht zusätzlich verunsichern und belasten.


Wann Wahrheit sagen, wann verschweigen?

Und da fängt das Dilemma an: Teile ich das meinem Partner nicht mit und verheimliche dadurch etwas schon nicht Unwichtiges? Oder erzähle ich ihm davon und nehme in Kauf, dass er danach verletzt is?. Es kommt vermutlich auch sehr darauf an, wie eifersüchtig und emotional stabil und selbstbewusst der Partner und wie sicher die Beziehung ist. Wie viel Ehrlichkeit verträgt die Beziehung?

Ich bin mir in dem Fall nicht immer sicher, weil da mehrere Interessen miteinander in Konflikt kommen. Ich will meinen Partner an meiner Gefühlswelt teilhaben lassen. Wenn ich verliebt bin, ist das natürlich ein Grund zur Freude und ich möchte das nicht vor meinem Partner verstecken. Und vielleicht will er das auch wissen, wenn ich mich in jemand anderen verliebt habe.

Aber gleichzeitig weiß ich auch, dass er es vielleicht nicht so prickelnd findet, unsicher wird, an meinen Gefühlen für ihn zweifelt, die komplette Beziehung in Frage stellt. So würde es mir gehen, wenn mein Partner sich in jemand anderen verlieben würde. Ich wäre unglaublich eifersüchtig auf die andere Frau und würde mich fragen, was mit unserer Beziehung nicht stimmt. Liebt er mich denn überhaupt noch? Ich hätte Angst, ihn zu verlieren, an diese andere Frau, die ihm den Kopf verdreht hat.

Und da frage ich mich aus Sicht der anderen Person: Will ich das überhaupt wissen, wenn mein Partner sich fremdverliebt hat? Wie gehe ich damit um? Was bringt mir das wirklich außer Kummer und Sorgen?

Aber andererseits: Ist es wirklich besser, mit einer Illusion und Lüge zu leben, dass sich mein Partner niemals fremdverlieben würde. Würde ich mich nicht selbst belügen, wenn ich meinem Partner auffordere, mir niemals etwas davon zu erzählen? Es ist allzu menschlich und verständlich, weil ich mich damit selbst schütze.

Es kommt ganz darauf an. Man kann nicht pauschal sagen: Wahrheit unbedingt sagen oder lügen. Es ist wie so oft im Leben, dass es nicht die einzig richtige Antwort gibt.

Ich habe damals nichts gesagt, weil meist keine ernsten Gefühle dahinter steckten. Sollte es über die oberflächliche Schwärmerei hinausgehen, sollte ich ernsthaft darüber nachdenken, die Beziehung zu beenden, um eine neue anzufangen: Dann sollte ich wirklich mit meinem Partner darüber reden.

Alles andere ist etwas, was ich auch mit mir selbst ausmachen kann und will. Das ist nichts, womit ich meinen Partner unnötig belasten will.

Hat die Wahrheit einen Nutzen?

Dahinter steckt die Frage: Was bringt das meinem Partner und unserer Beziehung, wenn ich jetzt alle Karten offen auf den Tisch lege? Hat es irgendwie einen Nutzen?

Falls ich mich ernsthaft fremdverlieben sollte, ist es insofern wichtig, darüber zu reden, weil es eben unsere Beziehung tangiert. Es geht nicht nur um mich, sondern um unsere Beziehung, die möglicherweise ins Wanken kommt. Und vor allem wenn ich merke, dass mir etwas in der Beziehung fehlt. Vielleicht ist die Verliebtheit nicht mal das, was ich gestehen müsste. Sondern ich müsste mich fragen: Woher kommt die Verliebtheit? Was hat die andere Person, was mir an meinem Partner fehlt? Was vermisse ich vielleicht in der Beziehung, was ich mit dem anderen habe? Darüber zu reden, unabhängig von der Person, für die ich Gefühle entwickelt habe, ist zielführender.

Natürlich würde es meinen Partner sehr wahrscheinlich verletzen, traurig und unsicher machen. Das Resultat ist ein ähnliches. Aber in dem Fall besteht dringender Handlungsbedarf. Wenn es nur eine Schwärmerei ist, dann geht die auch wieder vorbei. Wenn ich die Gefühle nicht ernsthaft weiterverfolge, dann muss ich darüber auch nicht sprechen.

Sich selbst nicht mehr treu sein

Ein ähnliches Beispiel wäre meine Freundin A., die schon sehr lange mit ihrem Freund zusammen ist, mal mehr oder weniger. In den letzten Jahren hat sie sich immer wieder in andere Menschen verliebt, ist ihnen näher gekommen, einem sogar körperlich. Doch sie hat all die Jahre darüber geschwiegen und über ihr Bedürfnis, andere Menschen romantisch kennenzulernen. Ich fragte sie, warum sie zumindest das nicht mal anspricht? Ihre Antwort: Ich habe Angst, dass er mich verlassen wird. Er wird definitiv Schluss machen.

Aber wie kann sie da so sicher sein? Und ist es nicht traurig, dass man so ein wichtiges Bedürfnis ständig unterdrückt, nicht mal darüber reden kann, aus Angst vor den radikalen Konsequenzen? Wer weiß wirklich, was passieren würde, wenn sie es ihm sagen würde?

Ich kann sie sehr gut verstehen, sie will ihre Beziehung schützen, aber damit entfremdet sie sich auch von sich selbst, weil sie mit sich nicht ehrlich ist.

An der Stelle hätte ich entschieden, es zu sagen. Das sind nicht mehr nur oberflächliche Schwärmereien gewesen. Das waren schon tiefere Gefühle, die sie entwickelt hat. Gefühle, die zu Gedanken führten, wie es mit dem anderen wohl sein würde.

Wir sind oftmals nicht radikal ehrlich, weil wir Angst davor haben, dass wir den Partner verlieren und verletzen. Aber noch größere Angst haben wir davor, was dann mit uns passiert, wenn wir verlassen werden. Darum schweigen wir über so viele wichtige Dinge, über die wir eigentlich reden müssten.

Das war bei mir damals ähnlich. Ich habe mit meinem Exfreund über das Thema offene Beziehung gesprochen, dass ich gern auch sexuelle Erfahrungen mit anderen Männern haben wollte. Doch er wollte das nicht hören. Er kam damit nicht klar und so sprach ich das Thema nicht mehr an. Stattdessen ging ich dann fremd. Nichts von Ehrlichkeit. Es ist nicht immer leicht mit Ehrlichkeit, vor allem, wenn der Partner einfach nicht damit umgehen kann.

Ab wann sage ich die Wahrheit?

Ich hatte vor kurzem etwas mit einem viel jüngeren Mann. Wohl wissend, dass er in einer Beziehung steckte. Ja, ich weiß, das ist alles total moralisch verwerflich, wie konnte ich nur, vor allem, weil ich selbst weiß, wie scheiße Fremdgehen ist. Dieses Mal war ich nicht diejenige, die jemanden betrogen hat, sondern diejenige, mit der er seine Freundin betrogen hatte.

Die beiden führen eine Fernbeziehung, die recht frisch ist. Er wird September nach Thailand für ein Jahr gehen, hat es ihr aber noch nicht gesagt. Er glaubt, dass die Beziehung dann sowieso enden wird, weil sie einfach keine Perspektive hat.

Die Frage ist hier: Wann sollte er seiner Freundin von seinen Thailand-Plänen erzählen? Er tendiert dazu, es so weit wie möglich hinauszuzögern, um noch mehr gemeinsame Zeit zu haben. Weil er davon ausgeht, dass das zwischen den beiden sowieso enden wird. Ich habe zu ihm gesagt, dass sie ein Recht darauf hat, es so früh wie möglich zu erfahren. Das ist eine Sache, die die beiden betrifft, langfristig. Sie sollte ein Mitspracherecht haben und entscheiden, ob sie länger mit ihm zusammen bleiben und das Jahr gemeinsam überstehen will. Ist es nicht ein wenig egoistisch, ihr das so lange zu verheimlichen aus Angst, dass die Beziehung zu früh zerbricht?

Vielleicht hat ihn das nur noch mehr zu mir getrieben. Und nein, ich habe ihn nicht verführt, habe versucht, ihm ins Gewissen zu reden. Er war es, der es unbedingt wollte, der mir körperlich näher kam und mich küsste. Ich habe mitgemacht. Es befreit mich nicht komplett von der Verantwortung, ich habe meinen Beitrag dazu geleistet. Es war alles andere als okay. Wenn ich „Nein“ gesagt hatte, hätte er nicht das schlechte Gewissen.

Sollte man einen Seitensprung immer beichten?

Sollte er seiner Freundin von dem Seitensprung mit mir erzählen oder lieber nicht? Da bin ich mir eindeutig unsicherer. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass man dem Partner so etwas unbedingt sagen sollte, egal, ob man monogam oder in einer offenen Beziehung lebt. Es ist eine Sache, die beide betrifft, weil es um Grundwerte wie Treue und Ehrlichkeit geht.

Doch gleichermaßen würde ich auch nicht pauschal sagen, dass die Wahrheit immer angebracht ist. Es kommt darauf an, welche Bedeutung dieser Seitensprung für die Beziehung hat. Ging es nur darum, das Bedürfnis nach körperlicher Nähe zu befriedigen, waren keine Gefühle im Spiel und bleibt es bei dem einen Mal und ist die Beziehung grundsätzlich erfüllend? Dann würde ich tatsächlich eher ein Auge zudrücken.

Ging es aber um mehr als nur Sex, will man das wiederholen und fehlt einem etwas in der Beziehung? Dann tendiere ich dazu, es zu sagen. Weil es schon auf ein Problem in der Beziehung hindeutet. Ein Seitensprung muss nicht immer bedeuten, dass in der Beziehung etwas nicht stimmt. Aber oftmals ist es ein Symptom für eine tiefer liegende Ursache, ein Mangel in der Beziehung.

So war es damals bei mir. Ich erkannte zu spät, dass ich mich emotional und körperlich von meinem Ex distanziert habe, nicht nur wegen der Affäre, sondern schon vorher. Weil es kaum mehr etwas gab, was uns wirklich zusammenschweißte, weil wir quasi nebeneinander her lebten. Die Affäre war für mich quasi eine Art Flucht in ein besseres Leben.

An der Stelle wäre es wichtig gewesen, die Wahrheit zu sagen. Dass ich eine Affäre habe, aber auch die dahinter liegenden Gründe, warum. Womöglich wäre es besser gewesen, schon vorher die Wahrheit zu sagen.

Würde er seiner Freundin davon erzählen, wenn es ihm nichts bedeutet hat und er sonst glücklich mit ihr ist, würde ich mich fragen: Was bringt diese radikale Ehrlichkeit, außer nur mehr Kummer und unnötige Sorgen? Die Verletzung durch einmal Fremdgehen kann so tief sein, dass sie nie wieder verheilt. Ist die absolute Wahrheit es wert, dass man dafür seine Beziehung aufs Spiel setzt. Man muss sich immer fragen: Warum das Ganze? Warum habe ich das getan? Was war mein Motiv? Und danach abwägen, ob man die Wahrheit sagt oder nicht.

Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr denke ich: Man fährt trotzdem besser, die Wahrheit zu sagen. Der Partner hat ein Recht darauf, es zu wissen und dann selbst zu entscheiden, wie er damit umgeht. Dieses ganze Gerede, man wolle den Partner nicht unnötig belasten, ist im Endeffekt eine Ausrede: Man hat Angst vor den Konsequenzen, Angst vor dem ganzen Drama und Stress, den fiesen Gefühlsausbrüchen, Angst verlassen zu werden und allein zu sein.

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