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Meine erste Sterbebegleitung: Der Tod kommt unerwartet

Jetzt ist er tot. Von heute auf morgen. So wirklich verabschieden konnte ich mich nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass der Tod so schnell kommt. Und mich so unerwartet trifft.

Seit knapp einem halben Jahr habe ich jeden Montag nach Feierabend einen älteren Herrn besucht. Sein Name war B*. 89 Jahre alt. Im Oktober wäre er 90 Jahre geworden.

Als ich Anfang des Jahres den Anruf vom Hospiz bekam, wusste ich nicht, was auf mich zukommen wird. Und was das alles mit mir macht. Einen Gehirntumor hatte er, weswegen er halbseitig gelähmt, auf einen Rollstuhl angewiesen war. So vieles, was er liebte, wurde ihm genommen. Seine Freiheit, eigenständig zu leben, die Möglichkeit, auf dem Wasser zu sein, das was er so sehr liebte, was ihn so glücklich machte. Das ging nicht mehr. Zurück blieb ein älterer Herr, in sich gekehrt, wortkarg. Jemand, der nicht so recht wusste, wie er mit anderen umgehen sollte, der verschlossen war.

So lernte ich ihn damals kennen. Der Anfang als Sterbebegleiterin ist nie einfach. Ich bin zwar jemand, der sehr offen auf andere wirken kann, aber doch von Unsicherheit geprägt ist. Vor allem wenn ich die Menschen nicht kenne, sie mir komplett fremd sind. Und so war es auch mit B*. Es war von Anfang an nicht leicht, Zugang zu ihm zu finden. Zu ruhig war er. Ein Gespräch überhaupt ins Rollen zu bringen, war alles andere als einfach.

 

Der Anfang voller Unsicherheit

Wie so oft wusste ich auch nicht so recht: Soll ich ihn auf den Tumor ansprechen? Will er darüber überhaupt reden? Ist das überhaupt in Ordnung zu fragen, wie es ihm ginge? Wie weit darf ich gehen? Was kann ich überhaupt mit ihm besprechen?

Die Anfänge einer jeden Sterbebegleitung sind immer wieder anders, immer wieder neu und herausfordernd. Die letzten Male waren anders, weil die Personen quasi schon im Endstadium waren. Nicht mehr wirklich ansprechbar. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie nicht mehr leben würden. Das bringt natürlich noch einmal andere Herausforderungen mit sich. Einfach nur da zu sein, nichts zu sagen, das Schweigen auszuhalten – und anders Trost zu spenden.

Das war bei B* einfacher. Er wirkte so normal, unabhängig davon, dass er eine körperliche Behinderung hatte.

Nur sehr langsam fanden wir doch zueinander. Obwohl der Anfang etwas schwierig war und er mir sein Leid klagte. Auch das gehört dazu, das muss man als Sterbebegleiter aushalten können. Das nicht zu nah an sich herangehen lassen.

Doch von Mal zu Mal wurde es besser, die Gesprächsthemen lockerer. Ich erinnere mich, dass ich anfangs auch immer mal wieder versuchte, positive Themen anzuschneiden. Wie war deine Kindheit? Woran erinnerst du dich? Was war positiv in deinem Leben? Um eben auch das Positive mehr ins Bewusstsein zu rücken.

Das lief einige Zeit recht gut, unerwartet gut. Ich überlegte mir Beschäftigungen für drinnen, weil es mitten im Winter und bei Dunkelheit keine Option war, rauszugehen. Er liebte es, draußen zu sein. Das ging erst im Frühling.

Ich schenkte ihm ein Rätselbuch, in dem wir gemeinsam Rätsel lösten. Das machte uns beiden Spaß.

Doch der Verfall war unvermeidbar, schleichend. Irgendwann ging das nicht mehr. Er könne sich nicht länger darauf konzentrieren, würde nicht richtig sehen können. Die Zeiten des gemeinsamen Rätselns waren vorbei.

Frühling als Neuanfang

Der Frühling kam und ich konnte ihn wenigstens nach draußen bringen, mit ihm spazieren gehen, ihn entlang der Elbe fahren. Ich glaube, dass ihm das unglaublich gut tat, endlich mal richtig rauszukommen. Und nicht nur einfach auf dem Hof herumzufahren.

Auch für mich war das angenehmer. Ich muss gestehen: In seinem kleinen Zimmer wurde es mir doch teilweise etwas zu eng und zu viel. Die Stille auszuhalten, war nicht leicht.

Draußen gab es so viele andere Eindrücke, neue Reize, andere Menschen, viele unterschiedliche Geräusche. Ganz viel, was einen ablenken kann. War es am Ende nicht nur für ihn, sondern auch für mich eine Art Ablenkung und Flucht, eine Art Vermeidung, sich mit Tod und Sterben auseinanderzusetzen? Aber muss man das denn ständig tun? Kann man nicht wenigstens versuchen, das begrenzte Leben, was man hat, zu genießen?

Sein Zustand verschlechterte sich permanent, immer mal in Schüben. Das Sprechen fiel ihm immer schwerer. Mit Wehmut erinnere ich mich an die Anfangszeit, in der wir einfach ganz normal miteinander sprechen konnten. Das ging irgendwann nicht mehr.

Er versuchte es immer wieder, mir etwas zu sagen. Ich habe es genau gespürt, wollte ihm helfen. Aber es ging nicht. So viele Momente, in denen er hilflos war. So viele Momente, in denen auch ich nicht wusste, was ich noch für ihn tun kann. Ich wollte ihm so gern dabei helfen. Aber es ging nicht. Ich musste das akzeptieren.

Ein ganz intimer Moment

Es gab diesen einen Moment, den ich nie wieder vergessen werde. Er schaute mich so eindringlich und so tieftraurig an. Es war fast so, als würden sich unsere Herzen verbinden. Ich konnte das spüren, was tief in ihm war. All die Verzweiflung, all der Kummer in seinem Herzen. Doch er weinte nicht. Ich habe nie eine Träne in seinen Augen gesehen. Ich war dagegen so berührt, so überwältigt, von dem, was ich spürte, dass ich weinen musste. Das war das erste und letzte Mal, dass ich in seiner Gegenwart weinte. Ich weinte nicht nur seinetwegen, sondern für ihn. Das war eine Form, an seinem Leid teilzuhaben.

Noch ein anderer Moment der Verzweiflung: Als ich ihn besuchte, lag ein Flyer vom „Letzte-Wünsche Wagen“ auf seinem Tisch. Für ihn war das die Botschaft, dass es wirklich mit ihm vorbei war. Er war so verzweifelt und hatte so eine große Angst, dass er fast in Panik geriet. Ich versuchte ihn zu beruhigen, es gelang mir irgendwie. Erst jetzt war ihm wirklich bewusst, dass er wirklich bald sterben würde. Auch mir.

Ich erinnere mich an die zwei Male, als er nicht da war. Man sagte mir, er sei ins Krankenhaus gebracht worden. Schlaganfall und epileptische Anfälle. Danach wurde es noch viel schlimmer mit dem Sprechen.

Irgendwann sprach er auch nicht mehr. Konnte höchstens noch Zustimmung und Ablehnung äußern.

Ich versuchte noch irgendwie, ein Gespräch mit ihm anzufangen. Aber es ging einfach nicht mehr. Ich kämpfte und kämpfte, konnte aber nur kapitulieren. Ich musste akzeptieren, dass wir nie wieder so miteinander sprechen konnten wie am Anfang. Die Kommunikation wurde eine andere.

Schweigen fällt schwer

Es fiel mir so schwer, das Schweigen zu ertragen. Ich glaube, dass das das Schwierigste an der Sache war. Eine fehlende verbale Kommunikation. Das war so weit weg von dem, was ich im Alltag erlebte. Auf meine Fragen konnte er nicht antworten, außer mit „Ja“ oder „Nein“.

Ich bin jemand, der mit Pausen und Schweigen schlecht zurechtkommt. Ich will möglichst erst gar keine Pausen aufkommen lassen. Mir ist diese Stille unangenehm. Und so war es damals anfangs auch. Aber mit der Zeit lernte ich, das anzunehmen und damit umzugehen. Es war nie wirklich schön, aber ich lernte, die Stille auszuhalten. Es war jedes Mal wie eine Art Meditation für mich. Ich musste nur aufpassen, dass ich nicht einschlief. Zu oft kämpfte ich dann mit Müdigkeit, weil ich einfach nur im Stuhl saß und nichts tat und sagte.

Ich versuchte, ihm etwas zu erzählen. Aber auch da gab es keine wirkliche Antwort. Für mich war das teilweise etwas frustrierend, wirkte es so, als ob ihn das alles nicht interessierte. Einfach weil keine Rückmeldung kam. Und so verschloss auch ich mich zunehmend. Dachte, dass es ihn ohnehin nicht interessierte.

Manchmal fühlte es sich wie ein Anstandsbesuch an. Als ob ich montags immer diesen Termin hätte. Das Spazierengehen war immer wieder gut. Doch das Sitzen in seinem Zimmer, die Stille, wenn wir nichts sagten, ich ihm beim Abendessen zusah. Das war jedes Mal die Zeit, die mir so lang vorkam.

Es gab Momente, in denen ich irritiert war. In denen ich frustriert war über die Situation. Mal war ich wütend darauf, mal tat er mir furchtbar leid.


Das Leben ist endlich

Doch immer wieder wurde mir bewusster denn je: Unser Leben ist endlich. Es könnte jeden treffen. Jeder andere könnte den Schicksalsschlag erleben wie B*. Ich könnte an seiner Stelle dort sitzen. Ich fühlte Mitleid für ihn. Dass er dieses Leben führte, was nicht mehr für ihn wirklich lebenswert war.

Er wollte nicht am Leben erhalten werden oder wiederbelebt werden. Das hat er ganz klar deutlich gemacht. Er wollte nicht mehr wieder ins Krankenhaus. Lieber in Ruhe sterben.

Ein Höhepunkt war dann sein Besuch der Ostsee, den er dank des Letzte Wünsche Wagens erleben durfte. Ich bin froh, dass er sich diesen Wunsch noch erfüllen konnte. Dass er wenigstens einmal noch mal ans Meer fahren und es genießen konnte.

Ich erinnere mich an das eine Mal, bei dem wir gemeinsam Eis essen konnten. Wie glücklich er war, als er den Spatzen ein wenig von seiner Eiswaffel geben konnte.

Das letzte Mal

Und ganz besonders in Erinnerung wird mir das letzte Mal bleiben, das letzte Mal, an dem ich ihn sah. Sein Zustand hatte sich innerhalb von einer Woche so rapide verschlechtert. Das war eigentlich schon ein Zeichen, dass es bald vorbei sein wird. Aber ich wollte das Zeichen nicht wahrnehmen. Er war inzwischen in einem Pflegerollstuhl, hatte vorher schon immer mal sich verschluckt und musste sehr stark husten. Jetzt war es so schlimm, dass er nicht mal mehr feste Nahrung zu sich nehmen durfte. Wir konnten nicht mehr spazieren gehen. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als mit ihm im Zimmer zu bleiben.

Die Tür war einen Spalt offen, sodass wir genau mitbekamen, was auf dem Flurgang geschah. Plötzlich waren Rettungssanitäter da, die eigentlich eine andere Frau im Zimmer gegenüber mitnehmen wollten. Die Frau lag eindeutig im Sterben, brauchte Sauerstoff, den sie nur im Krankenhaus bekommen würde. Doch sie weigerte sich, sie wollte einfach nicht mitkommen. Eine halbe Stunde redeten die Sanitäter und sogar ein Notarzt auf sie ein: „Wenn Sie nicht mitkommen, kann es sein, dass Sie diese Nacht nicht überleben werden. Ist Ihnen das klar, was das auch für Ihre Angehörigen bedeuten würde?“ Diese Worte haben sich in mein Gedächtnis gebrannt. Doch die Frau weigerte sich. Ich weiß bis heute nicht, ob sie mitgekommen ist oder nicht.

Es war für mich einfach so surreal. Ich war Zeugin eines Notfalls. Es ging wirklich um Leben oder Tod. Es fühlte sich so fern an, lebte ich sonst mein Leben, ohne darüber nachzudenken, dass es jeden Moment vorbei sein sollte.

B* war genauso geschockt von dem, was er hörte und erlebte. Für ihn war das vermutlich noch einmal eindringlicher, befand er sich in einer ähnlichen Lage. Während wir das alles erlebten, wollte ich für ihn da sein. Ich nahm seine Hand, hielt sie und streichelte ihm über den Handrücken. Als Zeichen, dass er nicht allein ist, dass ich für ihn da bin. Ich tat das sonst nur bei der Begrüßung und beim Abschied. Rückblickend bereue ich es, dass ich es nicht öfter getan habe.

Für uns beide war das ein unglaublich intimer und auch eindringlicher Moment. Ich spürte die Verbundenheit zwischen uns. Er lächelte mich an. Bis heute weiß ich nicht, ob es einfach die Freude über die Berührung war oder auch ein Zeichen seiner Dankbarkeit. Wir schwiegen uns an, sahen uns gegenseitig tief in die Augen. Das war ein Moment, den ich nicht mehr vergessen werde. Ich wusste, dass da etwas ganz Wichtiges passiert.

Doch im Leben hätte ich nie gedacht, dass das wirklich das letzte Mal ist, dass wir uns sehen. Ich sagte zu ihm noch: „Es wird wieder besser, es wird dir wieder besser gehen, ganz sicher.“ Vielleicht wollte ich ihm die Angst vor dem Sterben nehmen. Vielleicht wollte ich es auch einfach nicht wahrhaben und mir das selbst einreden, dass es so sein wird.

Rückblickend waren da so viele Zeichen, dass das wirklich das Ende war. Es kann gar kein Zufall sein, dass wir bei diesem letzten Mal auch noch das Sterben einer anderen Person miterlebt haben. Das kann einfach nicht einfach nur ein Zufall gewesen sein. Auch wenn ich nicht an das Schicksal glaube.

Die weiße Rose

Die Woche darauf wollte ich ihn normal besuchen. Und sah nur eine weiße Rose, die an seinem Türschild hing und da dämmerte es mir langsam: Er ist gestorben. Es war für mich ein Schock. Ich konnte und wollte es nicht wahrhaben. Ich hatte ihn doch erst letzte Woche gesehen! Natürlich sah er nicht gut aus. Aber ich hatte andere Menschen gesehen, die in einem viel schlimmeren Zustand waren. Die nicht mehr wirklich bei Bewusstsein waren, mich nicht mehr wahrnehmen konnten. Bei denen ich wusste, dass sie bald sterben würden. Doch bei B* war es anders. Er wirkte letzte Woche noch so, als könne er es doch noch schaffen.

Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass er wirklich im Sterben lag.

Und so traf mich sein Tod so unerwartet. Ich wusste nicht, was ich denken und fühlen sollte. Es war einfach nur Leere da. Ich akzeptierte es und lebte mein Leben einfach weiter.

Doch in ruhigen Momenten, muss ich immer wieder an ihn denken und an unsere kurze gemeinsame Zeit. Dann werde ich traurig.

Im Gegensatz zu den Begleitungen zuvor, habe ich ihn gekannt. Wir hatten einiges zusammen erlebt. Wir hatten eine Verbindung zueinander, die mir bei den anderen fehlte. Ich durfte den letzten Teil seines Lebens begleiten. Und er war auch ein Teil meines Lebens geworden.

Zu wissen, dass dieser Mensch, den du für viele Monate jede Woche gesehen hast, nicht mehr ist, dass du ihn nie wieder siehst, nie wieder mit ihm sprechen oder interagieren wirst. Das ist gerade einfach unglaublich. Ich glaube, dass ich es noch immer nicht so wirklich realisiert habe. Er stand mir vielleicht nicht nahe, aber er hat mich doch öfter im Herzen berührt. Und ich mochte ihn, ich hatte ihn gern, ich wollte für ihn da sein, ihm helfen. Er hat mir schon etwas bedeutet.

Er war meine erste wirkliche Begleitung. Eine Begleitung, von der ich dachte, dass sie länger gehen würde.

Man sagt, dass er nicht gekämpft hat, dass er einfach ohne Schmerzen gestorben ist, hoffentlich ist er friedlich eingeschlafen. Und wird jetzt seinen Frieden finden.

Sein Tod hinterlässt Leere und eine Trauer. Ich werde ihn vermissen, den guten alten B*. Und ich werde ihn nicht vergessen, sondern mich immer und immer wieder an ihn erinnern. Ihn in Ehren halten.

Seit seinem Tod muss ich immer wieder über das Sterben und den Tod nachdenken. Wie friedlich und unbeschwert wir leben und dabei keinen Gedanken daran verschwenden. Wie wertvoll das Leben ist und jeder einzige kleine Moment. Dass der Tod einfach allgegenwärtig ist. Das macht mich so unglaublich traurig, aber auch dankbar zugleich. Denn wir können das Leben wertschätzen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Das ist eine wichtige Lektion, die ich dank B* gewinnen konnte. Dass die eigene Lebenszeit so wertvoll und wichtig ist und wir öfter dankbar fürs Leben, was wir haben, sein sollten.

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