Heutzutage wird die Religion immer mehr in den Hintergrund gedrängt, stattdessen verlässt man sich zunehmend auf seine Fähigkeiten. Der Glaube an Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in den westlichen Industrieländern hat sich etabliert. Oft beruft man sich auf die Redensart „seines Glückes Schmied sein“, kauft sich Ratgeber zur glücklichen Lebensführung, besucht Seminare der positiven Psychologie, die uns Tipps gibt, wie wir unser Leben glücklicher und besser gestalten können. Man könnte fast von einem neuen Kult ausgehen: Wir beten nicht mehr zu Gott. Nein, wir glauben an uns selbst. Wir können unser Schicksal, falls es das gibt, in die Hand nehmen. Nie wieder müssen wir uns von Problemen fertig machen, solange wir eine gute Lebenseinstellung haben, können wir alles schaffen. Das klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Doch die Realität lässt uns am Glauben zweifeln.
Was genau bedeutet überhaupt „Selbstbestimmung“? Laut
Brockhaus meint es „die Möglichkeit und Fähigkeit des Individuums … frei dem
eigenen Willen gemäß zu handeln.“ Der Wille ist eine Eigenschaft des Menschen,
sich bewusst für ein Verhalten zu entscheiden und ein Ziel anzustreben, was
eine kognitive Leistung ist. Nicht immer haben Menschen selbst entschieden,
denken wir nur an die Zeit, als Kant aussprach: „Habe Mut dich deines eigenen
Verstandes zu bedienen!“ Zuvor wurde das Denken und Handeln von Obrigkeiten
gelenkt, was in der Gegenwart unvorstellbar wäre.
Doch auch heute kann man daran zweifeln, dass unser Handeln
frei und immer bewusst ist. Laut der Ethik wird unser Handeln von inneren wie
auch äußeren Zwängen beeinflusst, was freies Handeln beeinträchtigt. Zu den
äußeren Zwängen gehören Rollenfunktionen, die wir übernehmen, Gesetze, Regeln,
Verbote, Konventionen, Sitten, Moral- und Wertevorstellungen. Bereits während
unserer Sozialisation lernen wir all diese Dinge als Orientierung und
Beschränkung für unser Handeln und hier geht ein Stück Selbstbestimmung
verloren. Unser Handeln kann nur innerhalb eines bestimmten Normbereichs variieren,
doch wird dieser überschritten, erfahren wir negative Sanktionen. Damit
einhergehen aber auch die inneren Zwänge, die aus unserer Persönlichkeit und
unseren Natur resultieren. Man glaubt, dass man nach seinem Willen leben könnte,
aber schaut man mal genauer, ist es nur begrenzt möglich. Viel eher müssen wir
unseren Willen öfters mal hinten anstellen, wenn man mit sozialen Strukturen
konform sein will. Wer jedoch darauf verzichtet und seinen Willen durchsetzen
muss, wird gleich als egoistisch abgestempelt.
Selbstbestimmung ist ein relativer Sachverhalt und der
Glaube daran ebenso. Mit Selbstbestimmung geht auch das Streben nach
Individualität einher und nicht zuletzt auch Protest gegen die Allgemeinheit.
Mit der Masse mitgehen oder sich ihr entgegen stellen, das ist die Frage. In
Filmen und Büchern wird letzteres sehr oft angepriesen, auch wenn die Helden das
Gesetz brechen, sie kommen damit leicht davon. Doch in der Wirklichkeit
funktioniert ein vollkommen selbstbestimmtes Handeln, das gegen Gesetze
verstößt, nicht. Selbstbestimmung ist ein Glaube, der von vielen verehrt wird,
doch er hat auch viele Schattenseiten. Man sollte beachten, dass Selbstbestimmung
sowie die damit verbundene Freiheit für jeden etwas anderes bedeutet. Bedenken
wir mal, was Menschen tun würden, wenn sie vollkommene Freiheit hätten. Dem
Egoismus würde keine Grenzen mehr gesetzt werden, alles würde in Chaos
verfallen, Sicherheit wäre nicht mehr gegeben. Zugespitzt bedeutet es: Anarchie regiert die Welt; Mord
und Totschlag überall! Ich verweise an dieser Stelle auf das Werk „Anarchie in
Bayern“ von Rainer Werner Fassbinder, was sehr gut darstellt, welche
Konsequenzen vollkommene Freiheit mit sich bringen würde.
Dagegen ist die Fremdbestimmung etwas, was wir als negativ
empfinden, doch sie gehört zu unserem Alltag dazu und wird meist nicht bewusst
wahrgenommen. Oft assoziiert man mit letzterem eine übernatürliche Kraft namens
„Schicksal“ oder „Karma“, die uns schwere Zeiten beschert und uns in Unglücke
verwickelt. Wir fragen uns nach einem Schicksalsschlag: „Womit habe ich das nur
verdient?“ Doch eigentlich verbirgt sich dahinter nur der Zufall, der verschiedene
Formen annehmen kann, dennoch unser Leben aus den Bahnen werfen kann.
Die zuvor angesprochene Sozialisation und Erziehung durch
die Eltern gibt uns Verhaltensweisen und
Denkmuster vor, an denen wir uns zeitlebens orientieren. Laut des
Soziologen Pierre Bourdieu wird die menschliche Freiheit außerdem durch
sozioökonomische, historische Bedingungen, durch Geschlecht, Nationalität und
Weltanschauung geprägt. Ganz wichtig ist die historische Epoche, denn in Zeiten
der Ständegesellschaft konnte man sich, wenn man einer niederen Klasse
angehörte, gar nicht hocharbeiten und musste sich seinem Schicksal hingeben. Andererseits
besitzt der Mensch innerhalb seiner Grenzen einen individuellen
Handlungsfreiraum, sonst gäbe es keinen sozialen Wandel oder Innovation. Auch
unsere soziale Herkunft und der materielle Wohlstand sind zwei Dinge, die
unsere Freiheit begrenzen oder bestimmen. Sicherlich bedeutet es nicht, dass
man keine Freiheiten hat, wenn man aus einer nicht angesehenen Familie kommt
oder wenig Geld besitzt, jedoch zeigt sich doch, dass angesehene und
wohlhabende Menschen Vorteile und mehr Gestaltungsmöglichkeiten im Leben
genießen können.
Das Groteske ist aber, dass die Grenzen unserer
Selbstbestimmung nicht nur von außen kommen, sondern in uns selbst stecken. Zum
einen wären unsere Gene zu betrachten, auf die wir keinen Einfluss nehmen.
Gewisse erbliche Krankheiten kann man nicht ändern und man muss teilweise ein
Leben lang damit zurechtkommen. Auch beeinflussen unsere Erbanlagen, welche
Persönlichkeit wir später entwickeln. Je nachdem, ob wir introvertiert oder
extrovertiert sind, kann sich dies auf unsere Lebenseinstellung, unsere
Lebensweise und den Umgang mit sozialen Kontakten auswirken.
In Bezug auf die
Persönlichkeit sollte ebenso das Strukturmodell der Psyche von Sigmund Freud
herangezogen werden. Laut diesem besteht die Psyche aus dem „Ich“, dem
„Über-Ich“ und dem „Es“. Das
"Es" stellt das Unterbewusstsein dar und enthält alle natürlichen
Triebe, die sich in unserem Handeln meist unbewusst äußern. Das
"Über-Ich" umfasst die sozialen Normen, Werte, Moral und das
Gewissen, die während der Erziehung erworben werden. Nur durch das Über-Ich
kann der Mensch erst sozial leben und seine Triebe kontrollieren. Das
"Ich" steht zwischen den beiden und spiegelt das bewusste Denken, das
Selbstbewusstsein, im Alltag wieder. Es vermittelt zwischen den Ansprüchen des
Ichs, des Über-Ich und der sozialen Umwelt und strebt danach Konflikte zu
lösen. Insofern ist unser Handeln nicht immer selbstbestimmt, da wir von
unbewussten Trieben, aber auch von inneren Zwängen in Form des Über-Ichs
gesteuert werden. Oftmals geraten wir in einen Konflikt zwischen diesen beiden
Prinzipien, die uns zum Handeln zwingen. Auch wenn es möglich ist, zwischen den
beiden einen Kompromiss zu finden, so kann man nicht gleich auf ein
selbstbestimmtes Handeln schließen. Selbstbestimmt ist nur der Aspekt der
Kompromissfindung, doch die Bedingungen werden nicht von uns, dem „Ich“,
definiert. Auch hier äußert sich Selbstbestimmung nur in einem gewissen Rahmen.
Schlussendlich hat uns die Diskussion um den Glauben an
Selbstbestimmung gezeigt, dass dieser anzuzweifeln ist. Es darf nicht gesagt
werden, dass wir absolut keine Wahlmöglichkeiten und Freiheiten zur Gestaltung
unseres Lebens haben. Wir können nur nicht davon ausgehen, dass wir in jedem
Fall über uns selbst bestimmen können. Das „total autonome Individuum“ ist nur
eine Wunschvorstellung. Richtig ist nur, dass wir innerhalb innerer wie äußerer
Grenzen einen individuellen Spielraum haben, uns selbst zu verwirklichen. Wer
dies anerkennt und gleichzeitig glaubt, dass er durch gute Lebenseinstellung
und Anpassung Probleme bewältigen kann, glaubt vielleicht richtig.
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