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Die Sucht nach Tinder


Ich bin süchtig. Süchtig nach diesem blöden Dating-Portal. Ich weiß, es ist nicht gut, und das wegen verschiedener Gründe. Aber ich kann es einfach nicht lassen. Aber warum lässt mich Tinder einfach nicht los?



Es geht schon seit einigen Wochen und sogar Monaten so. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht diesen pinken Bildschirm mit der roten Flamme vor mir habe. Zu jeder Gelegenheit schaue ich rein, aus Langeweile, weil ich Lust habe oder sonst nichts zu tun habe. „Ach, mal kurz schauen, was da so geht“ kommt mir in dem Sinn. Und aus dem kurzen mal Reinschauen werden dann doch ein paar Minuten mehr.

Das kennt man sicherlich auch von anderen Social Media wie Facebook, Instagram, Twitter oder generell einfach vom Internet. Einmal drin, kommt man so schnell leider nicht mehr raus. Man erwischt sich, wie man doch viel mehr Zeit damit verbringt als man sollte. Und hat danach ein schlechtes Gewissen. Das tut mir und anderen nicht gut, aber irgendwie kann ich trotzdem nicht aufhören.

Und bei Tinder habe ich das Problem gerade massiv, es ist schlimmer als bei Facebook, wo ich meist wirklich nur kurz, dafür öfter, reinschaue und die Lage checke. Doch was ist es, was mich so an Tinder reizt? Ein Tag ohne Tinder kann ich mir fast nicht mehr vorstellen. Ob ich wirklich süchtig danach bin? Und warum eigentlich?

Ich habe mir damals Tinder geholt, weil ich mich ablenken wollte. Ich war ziemlich doll in einen Mann verliebt, wusste aber, dass er nichts von mir wollte und wir einfach Freunde bleiben würden. Und dann war er auch noch weggezogen. Ablenkung soll ja immer am besten sein, um über Herzschmerz hinwegzukommen. Und dann dachte ich mir: Warum nicht die Ablenkung bei anderen Männern suchen? Und so kam ich schließlich zu Tinder, weil es einfach eine der meist genutzten Datingplattformen schlechthin ist.

Ich meldete mich mit gemischten Gefühlen an, einerseits hatte ich kaum große Erwartungen, dass das was werden würde. Andererseits war ich aufgeregt, gespannt, welche Männer mich dort erwarten. Und dann wurde ich positiv überrascht: Da waren nicht nur wie bei anderen Plattformen vorwiegend nicht so attraktive Männer dabei. Im Gegenteil: Es wimmelte nur vor schönen Männern. Ich konnte es nicht fassen, in welchem Paradies ich war.

Das ist das eine, aber würde es denn auch einen Match zwischen mir und einem attraktiven Mann geben. Ich versuchte also mein Glück und wurde wieder positiv überrascht: Da ich eher anspruchsvoll bin, gebe ich nicht jedem einen Like, sondern nur denjenigen, die ich gut finde. Und was soll ich sagen: Fast jeder Like wurde zu einem Match! Und da wären wir wahrscheinlich bei dem wichtigsten Suchtfaktor: Jedes Mal habe ich mich gefreut wie so ein Kind, spürte ein leichtes Kribbeln und fühlte mich einfach nur happy. Ziemlich blöd, sich über so etwas zu freuen, denn inzwischen weiß ich ja, dass viele Männer einfach alles liken und später aussortieren. Aber in der Anfangszeit bin ich dadurch in einen förmlich Rauschzustand gekommen. Anfangs war es für mich viel einfacher Matches zu kriegen, inzwischen ist es schwerer geworden.

Und das ist es: Es ist ein einfacher Weg, schnell mal das Gehirn und sich selbst zu belohnen. Man muss nur kurz mal nach rechts wischen und schon kriegt man die Belohnung, Schnell und einfach. Ich freue mich jedes Mal, werde etwas euphorisch, wenn es doch klappt. Ich glaube, da liegt echt das größte Suchtpotenzial. Es ist halt auch einfach schön, wenn man sofort mitbekommt, wer auf einen steht und wer nicht. Nur wenn beide Interesse haben, kann man einen Schritt weitergehen. Das macht es unheimlich unkompliziert.

Und natürlich ist es ein enormer Ego-Push, wenn ich weiß, dass andere mich attraktiv finden. Ich habe nicht so viel Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, bin eher schüchtern. Früher dachte ich immer, ich kriege nie jemanden ab, mich findet keiner attraktiv genug. Doch seitdem ich mit Tinder angefangen habe, bekomme ich einen anderen Eindruck von mir. Anscheinend bin ich doch nicht so unattraktiv. Von einigen bekomme ich zu hören, dass ich attraktiv und hübsch bin. Wem würde das nicht schmeicheln? Ich wollte mit Tinder auch mal testen, wie ich auf dem Single-Markt noch so ankomme und das habe ich nun herausgefunden. Zu wissen, dass mich auch andere Männer attraktiv finden und mich begehren, stärkt mich in meinem Selbstbewusstsein. Zumal mich das doch schon sehr anmacht, wenn ich weiß, der andere will mich.

Sammelleidenschaft

In letzter ist mir dann aber aufgefallen, dass ich doch etwas abstumpfe. Ich freue mich zwar schon noch, wenn ich einen Match bekomme, aber suche dann einfach weiter, ohne mich mit dem neuen Match zu befassen. Anfangs habe ich noch zuerst geschrieben, inzwischen lasse ich es sei und mache es nur, wenn mir der Mann richtig gut gefällt. Ich will nicht immer den ersten Schritt machen, können das doch die anderen tun. Das zeigt dann auch, ob derjenige echtes Interesse an einem hat. Oder eben nicht. Und so sammeln sich immer mehr und mehr Matches, wie viele es genau sind, kann ich nicht sagen. Ich habe gelesen, dass es einige Frauen gibt, die nur deswegen dort aktiv sind. Weil sie eben diese Bestätigung brauchen und gerne Matches sammeln. Und ich gestehe: Auch ich finde es reizvoll, mir diese Liste anzusehen und zu wissen, dass die mich wahrscheinlich alle heiß finden. Wiederum ein Ego-Push mehr. Und dieser Sammeltrieb wird dadurch auch befriedigt.

Außerdem macht es mir einfach auch unglaublich viel Spaß, immer weiter zu suchen. Es ist ein Spiel, das scheinbar niemals endet, denn es kommen ja auch immer wieder neue dazu oder welche, die nur auf Durchreise sind. Jedes Mal wenn ich Tinder öffne, bin ich gespannt, wer da noch Neues zu finden ist. Das macht auch einen großen Reiz aus. Ich bin generell offen für Neues und sehne mich nach Abwechslung und die Lust auf Neues wird ebenso durch Tinder bestätigt.

Die Suche nach Neuem

Wo wir schon beim nächsten Suchtfaktor sind: Die Suche nach Neuem und die Suche nach jemand Besseren. Auch wenn ich bereits Matches mit heißen Typen habe, mache ich weiter. Wer weiß, wer da als nächstes kommt? Einer, der noch heißer und geiler ist als der vorherige? Das weiß ich nicht und diese Ungewissheit treibt mich an, weiterzumachen. Und auch das fördert die Abhängigkeit. Dahinter steckt auch die Angst etwas zu verpassen – Fomo. Was wenn es noch einen gibt, der besser aussieht und besser zu mir passt? Ich merke, dass ich mich mit dem, was ich bereits habe, nicht zufrieden gebe. Die Gier nach Mehr wird immer größer und ist nicht mehr zu stillen. Ein Teufelskreis.

Ich glaube, dass Online-Dating heutzutage diese Angst verstärkt und auch eben diese Unzufriedenheit und Lust nach Besserem. Wir wollen uns nicht auf paar Optionen oder überhaupt eine festlegen. Es gibt doch so viel mehr. Am liebsten hätten wir von allem etwas, hier mal naschen, dort mal probieren. Und so hüpfen wir von einem zum nächsten, ohne jemals richtig anzukommen. So geht es mir auch. Das hat dann die Folge, dass man sich nicht mehr einer Person widmet, ihr Zeit schenkt, sie schätzt. Es fühlt sich wie in der Massenindustrie an: Bin ich mit einem fertig, kommt der nächste und so weiter. Und das löst dann doch Stress und Unruhe aus.

Neue Leute kennenlernen

Es erleichtert mir die Suche ungemein. Als eher schüchterne Frau fällt es mir schwer, auf attraktive Männer im echten Leben zuzugehen, geschweige denn richtig zu flirten. Doch durch Tinder habe ich die Möglichkeit, doch auf schnelle und einfache Weise an Männer zu kommen, die mich wahrscheinlich auch gut finden. Und übers Schreiben kann ich mich auch leichter öffnen, lerne die Typen erst einmal kennen, bevor wir uns wirklich treffen. Und wie schnell es manchmal geht, dass man sich trifft. Eigentlich könnte man das Texten weglassen und sich gleich verabreden.

Aber ich finde auch, dass es Spaß macht, sich erst einmal kennenzulernen. Als schüchternes Mädchen hatte ich nie groß mit anderen Jungs und Männern zu tun, wenn es nicht meine Freunde waren. Irgendwie scheine ich gerade meine Jugend nachzuholen. Endlich schreibe ich mal mit anderen Männern, treffe mich mit ihnen, lerne sie kennen. Das gab es früher einfach nicht bei mir. Es ist sooo aufregend, immer wieder neue Leute kennenzulernen, die so ganz anders leben oder andere Ansichten und Interessen haben als ich. Für mich ist es schon eine Überwindung, aber es macht Spaß, sich immer wieder auf neue Leute einzulassen. Eine tolle Übung, um noch mehr Selbstbewusstsein aufzubauen.

Sexualität entfaltet sich

Und nicht zu vergessen, macht es auch sehr viel Spaß mit mehreren zu schreiben und dann vielleicht auch etwas versaute Sachen von sich zu geben. Ich bekomme immer wieder ein Kribbeln untenherum und mein Kopfkino schaltet sich automatisch an und macht sein Ding. Noch nie war mein Kopfkino so stark wie jetzt. Bis vor kurzem war ich eher sexfaul, dachte das wäre halt einfach so. In einer langen Beziehung kann das passieren. Aber seitdem ich Tinder nutze, denke ich öfter daran, habe mehr Lust darauf und auch Spaß daran. Meine Sexualität und Leidenschaft entfaltet sich einfach wieder.

Es ist auf der Plattform so einfach wie noch nie, an unverbindlichen Sex zu kommen. Es ist also etwas dran, dass diese Plattform eher etwas für Leute ist, die Lockeres als die große Liebe suchen, anders als bei anderen Anbietern. Und wenn man mal so fragt, was die meisten suchen, ist es wirklich nur etwas Lockeres. So gut wie nie kam eine feste Beziehung in Frage, wenn dann höchstens waren die Männer offen für alles oder was sich entwickelt. Einer wollte langfristig eine feste Beziehung, hatte aber nichts gegen etwas Lockeres. Insofern habe ich es als Frau leicht gehabt, potenzielle Abenteuer zu finden.

Neue sexuelle Erfahrungen sammeln

Und auch da sehe ich viel Suchtpotenzial. Vor meinem Freund konnte ich mich nie wirklich ausleben, keine sexuellen Erfahrungen sammeln. Jetzt will ich das unbedingt ausleben. Ich war neugierig, wie es sein würde, mit einem anderen zu schlafen, das war einer meiner Hauptgründe damit anzufangen. Eigentlich wollte ich vielleicht nach einigen Malen aufhören. Aber ich merke, wie mich jedes mal weiterer Sex noch gieriger macht. Ich will noch mehr. Es gibt so viele schöne Männer, mit denen man fantastischen Sex haben kann. Wozu dann aufhören? Wenn man Single ist, wäre das kein Problem. Einfach ausleben und genießen. Doch bei mir ist es schwierig. Ich weiß, ich muss irgendwann einen Schlussstrich ziehen. Es ist zu spät, um es rückgängig zu machen. Aber wo setze ich den Schlusspunkt? Und da merke ich, wie verfallen ich Tinder und den Sexgeschichten bin.

Auf der anderen Seite, macht es so viel Spaß sich auszuleben, Neues zu probieren und so die eigene Sexualität besser kennenzulernen. Dieses Gefühl, sich zu treffen und zu wissen, was beide voneinander wollen, ist unbeschreiblich. Ich spüre immer wieder den Adrenalinkick in mir und bin mittendrin und danach sehr berauscht. Für mich sind diese Abenteuer wichtig, um meinen Alltag aufzulockern. Zu blöd, dass ich doch recht abhängig davon geworden bin. Und merke, dass ich diesen Abenteuern einfach zu viel Raum gebe und dafür wichtigere Dinge wie meine Beziehung, meine Freunde und Hobbys etwas vernachlässige. Und da beginnt die eigentliche Sucht: Wenn man alles andere nicht mehr so unter Kontrolle hat und sich fremdbestimmt fühlt. Wenn man bewusst nichts dagegen tun kann, dann wird es ernst.

Warum kann ich mit Tinder nicht aufhören?

Und das ist es, was mich gerade wirklich sehr beschäftigt. Ich merke, wie sehr mich Tinder einspannt, wie ich davon nicht mehr loskomme. Warum finde ich es so spannend und kann nicht mehr aufhören? Wenn ich nach der Antwort suche, muss ich tiefer in mich hineinhören. Ich glaube da steckt vor allem eine Art Unzufriedenheit mit meiner Beziehung drin. Ich kann mir eine feste Beziehung nicht vorstellen, ich will sie öffnen. Ich will das nicht missen. Ich will sowohl meinen Freund an meiner Seite haben, aber mich sexuell mit anderen ausleben. Für mich bedeutet Treue vor allem emotionale, keine körperliche. Denn für all meine Dates empfinde ich nichts, zumindest nichts emotionales. Ich kann mir vorstellen, einen Mann ein Leben lang zu lieben, aber nicht ein Leben lang nur mit einem Sex zu haben. Ich will nicht darauf verzichten, es mit anderen zu tun. Das ist mir durch Tinder klargeworden.

Was steckt noch hinter dieser Tinder-Sucht? Zum anderen die Sehnsucht nach neuem und neuen sexuellen Erfahrungen, deswegen auch das Bedürfnis nach offener Beziehung. Wieder nur Single sein will ich nicht, wie schon erwähnt. Es ist die Sucht nach Bestätigung und die Sucht nach Abenteuer und neuem. Kann ich diese Bedürfnisse nicht einfach in anderen Bereichen suchen und ausleben? Ich versuche zumindest immer wieder Neues, aber es ist doch etwas anderes. Bestätigung kriege ich durch meinen Freund, aber warum reicht mir das nicht?

Ich denke, dass ich definitiv bald einen Schlussstrich ziehen sollte. Ein erster Schritt ist es, die Sucht zu erkennen. Und jetzt muss ich versuchen, sie zu überwinden.

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