Ich
hatte schon immer das Gefühl, nicht so zu sein wie die anderen.
Früher fand ich das doof, fühlte mich ausgegrenzt oder hielt
bewusst Abstand zu anderen Menschen, Aber mittlerweile habe ich
gelernt, damit besser umzugehen.
Hat
das nicht jeder mal, dieses Gefühl, irgendwie „out of place“ zu
sein, nicht so richtig in die Gesellschaft reinzugehören? Ich hatte
das Gefühl schon seit meiner Kindheit. Irgendwie war ich schon immer
anders. Zu ruhig, zu ängstlich, zu schüchtern, zu verschlossen. Von
meiner Familie bekam ich immer zu hören: „Du bist so leise und
sagst immer so wenig. Geh doch mal mehr aus dir raus! Das ist doch
nicht gut, wenn du immer so schüchtern bist.“ Meine Eltern
empfanden meine ruhige Art als weniger gut, weil ich dadurch
vielleicht nicht so in die Gesellschaft passte, nicht so angenommen
werde und Probleme bekomme, Kontakte aufzubauen. Oder wenn ich mich
mit Freunden traf, bekam ich gelegentlich mal zu hören: „Jetzt sag
doch auch mal etwas!“
In
der Schule bekam ich schlechte Mitarbeitsnoten, weil ich mich so gut
wie nie meldete. Ich wurde bestraft, weil ich nicht so gerne vor
allen sprechen wollte. Aber weniger fleißig war ich deswegen nicht,
ich habe genauso viel wenn nicht sogar mehr gelernt als die anderen.
Ich war eben einfach nur zu ruhig in den Augen meiner Lehrer. Ich
erinnere mich noch als meine damalige Klassenlehrerin in der
Oberstufe zu mir sagte: „Du bist für mich ein Rätsel, nie konnte
ich hinter deine Seele schauen. Schließlich warst du still und sehr
introvertiert. Ich war nicht immer sehr geduldig mit dir und hätte
einfühlsamer sein sollten.“ Irgendwie war ich froh über ihre
ehrlichen Worte, doch es machte mich auch traurig, dass ich so auf
andere wirkte.
Weder
meine Freunde, noch meine Familie und auch meine Lehrer meinten es
wahrscheinlich gar nicht böse mit mir. Sie wollten nur das Beste,
dachten, dass es mir helfen würde, mehr aus mir herauszukommen. Ich
bekam immer das Gefühl, dass ruhigsein in dieser Gesellschaft nicht
akzeptiert wird, weil es nur Schlechtes zu bedeuten hat.
Am
Ende unserer Abizeit bekamen wir die Aufgabe, über jeden unserer
Klassenkameraden ein paar positive Sätze zu schreiben. Am Ende
konnten jeder die ganzen Sätze gesammelt auf einem Papier lesen. Und
auch da las ich immer wieder, dass ich zurückhaltend auf die anderen
wirkte. Teilweise wirkte es auf mich, als wäre es wirklich eine
schlechte Eigenschaft. Aber meist schrieben mir meine ehemaligen
Klassenkameraden auch andere Eigenschaften zu: Dass ich gerade
überraschend bin, wenn ich einerseits so ruhig wirke, aber auf der
Bühne (ich war in der Theaterklasse) aus mir herauskomme und alle
beeindrucken kann. Und in einigen Aussagen wurde meine ruhige Art
eher als positiv wahrgenommen. Weil ich so ruhig bin, schien ich für
einige auch eine gute Zuhörerin zu sein. Und dass ich durch meine
gelassene Art auch entspannend auf andere wirke. Oftmals assoziierten
meine Mitschüler mit meiner ruhigen Art auch Hilfsbereitschaft und
Freundlichkeit. Mir wurde auch geschrieben, dass ich immer ein
offenes Ohr für andere habe und das wertgeschätzt wurde. Auch wenn
ich ruhig bin, fanden einige auch meine freundliche und liebe
Ausstrahlung gut.
Ich
war froh über diese ehrlichen Worte und auch überrascht, dass
meine ruhige Art nicht immer nur als negativ aufgefasst wurde. Mit
Introvertiertheit und Schüchternheit hatte ich zuvor mein ganzes
Leben nur schlechte Erfahrungen gemacht. Das war das erste Mal
überhaupt, dass ich meine Schüchternheit in einem positiven Licht
sehen konnte.
In
der Schule wurde ich bestraft mit schlechten Noten, in meiner Familie
und in meiner Freizeit hatte ich dadurch immer Hemmungen auf andere
zuzugehen, Kontakte zu knüpfen und eine Beziehung zu führen. Mein
Leben lang empfand ich es als Bürde, dass ich so ruhig und
schüchtern war. Ich konnte mich einfach nicht akzeptieren. Ich
konnte mein ruhiges Wesen nie wirklich annehmen oder gar mögen. In
dieser doch recht extrovertiert geprägten Gesellschaft sind
introvertierte und schüchterne Menschen in der Minderheit und werden
einfach unterschätzt. Nur wer etwas sagt, sich selbst darstellt,
seine Fähigkeiten zeigt, viel spricht, wird wirklich anerkannt und
wertgeschätzt.
Und
so versuchte ich diese Seite von mir zu verdrängen. Ich redete mir
ständig ein, dass ich eigentlich gar nicht so ruhig bin. Dass mich
die anderen alle gar nicht kennen, sondern eigentlich nur meine
Freunde. Bei ihnen konnte ich so sein, wie ich bin und zeigte, was
alles in mir steckte. Diese andere, verrückte und laute Seite
konnten die anderen nur erahnen, beispielsweise wenn ich beim Theater
auf der Bühne stand. Denn das entsprach sogar nicht meinem Ich, das
ich sonst in der Schule zeigte. Das war für mich ein großer Schritt
der Überwindung, aber dort fühlte ich mich frei, nicht mehr
gehemmt, ich konnte vor dutzenden Menschen spielen, es fiel mir nicht
schwer. Und auch bei meinen Freunde konnte ich viel offener sein,
auch mal mehr reden, aus mir herausgehen, meine andere Seite zeigen.
Mein
gespaltenes Ich
Ich
war gewissermaßen im Zwiespalt, ich teilte meine Persönlichkeit in
mein äußeres Ich, das die meisten von mir zu Gesicht bekamen und in
mein wahres Ich, das ich nur meinen Freunden und engsten Mitmenschen
zeigte. Zwei komplett unterschiedliche Seiten von mir, die aber
eigentlich beide zu mir gehörten. Doch das wollte ich nicht
akzeptieren.
Für
mich war mein äußeres Ich nur eine Art Maske, dahinter steckte
meine große Angst, Fehler zu machen und mich zu blamieren. Ich litt
rückblickend an einer sozialen Phobie. Damals war es sehr schlimm,
ich machte mir ständig Gedanken, wie ich auf andere wirke. Guckt der
mich komisch an? Was denkt der von mir? Mach jetzt bloß keinen
Fehler, sonst wird es echt peinlich. Ich konnte mich nur schwer davon
lösen, wie andere mich sahen. Nicht einmal telefonieren, essen in
der Öffentlichkeit oder Einkaufen konnte ich ohne Hemmungen. Es fiel
mir verdammt schwer. Ich vermied diese Situationen so gut wie es
ging. Aber in der Schule musste ich mich meiner Phobie stellen. Und
war jedes Mal in einer Gefühlsachterbahn gefangen: Einerseits hatte
ich riesige Angst davor, mich zu blamieren. Doch als ich es dann
einmal einen Vortrag ganz gut halten konnte, war ich voller Euphorie
und sehr stolz auf mich.
Für
mich war mein äußeres Ich nur schlecht, ich wollte es am liebsten
loswerden, wollte offener werden, extrovertiert. Aber so richtig
klappte es nie. Ich versuchte schon alles Mögliche: Ich spielte
Theater, ich sprach andere an, ging auch mal auf Partys. Aber so
richtig konnte ich mein schüchternes Wesen nie wirklich abschütteln.
Selbst
heute nicht, obwohl ich mich inzwischen sehr verändert habe, keine
Probleme mehr habe, andere anzusprechen, auf Leute zuzugehen, mich zu
öffnen oder neue Leute kennenzulernen. Ich merke noch immer, dass
Schüchternheit mich immer noch begleitet und ich immer noch ruhig
bin, auch wenn ich es inzwischen liebe, viel mit anderen Gruppen zu
unternehmen.
Wie
ich lernte, mich selbst zu lieben – Es ist okay, ruhig zu sein
Es
war ein langer Weg bis ich dort ankam, wo ich heute stehe. Ich
absolvierte mein Studium der Germanistik, kämpfte mich durch das
Journalismus-Volontariat und bin heute Redakteurin. Ich fing an,
Sportkurse zu besuchen, mich ehrenamtlich zu engagieren und war in
immer mehr Gruppen unterwegs. Ich lernte immer wieder neue Leute
kennen, überwand meine Hemmungen und probierte Neues aus.
Und
trotzdem bin ich nach wie vor ruhig, doch das ist gut so. Ich habe
erkannt, dass es nicht nur mein äußeres Ich ist, sondern, dass es
eine grundlegende Eigenschaft für mich ist. Ich bin einfach ein
ruhiger Mensch, ob nun bei Fremden oder auch bei Freunden. Selbst bei
letzteren merke ich immer wieder, dass ich doch weniger rede, als
zuhöre. Nur in seltenen Fällen bin ich mal diejenige, die mehr
spricht. Ich bin jemand, der einfach viel lieber Fragen stellt,
anderen zuhört und nicht so gern viel über sich spricht. Das ist
eben so. Es macht mir schon Freude mit anderen zu reden, über Gott
und die Welt und zu diskutieren und doch lege ich weniger Wert
darauf, andere zu überzeugen oder über mich etwas zu sagen. Denn
das weiß ich schon. Ich merke, dass es eher anstrengt den ganzen
Freunden immer und immer wieder dasselbe zu erzählen. Es ist viel
spannender, von anderen etwas zu erfahren, das ist neu für mich und
spannend, weil ich den anderen besser kennenlernen kann.
Inzwischen
habe ich gelernt, dass es nichts grundsätzlich schlechtes ist.
Ruhigsein ist eine Eigenschaft wie jede andere auch, aber sie hat
eben auch viele Vorzüge. Diese lernte und verinnerlichte ich leider
erst in den vergangenen Jahren. Wenn es keine ruhigen Menschen mehr
gäbe, gäbe es niemanden mehr der zuhört. Alle würden nur reden,
aber niemand würde zuhören. Das Gesagte würde nicht wirken. Wir
brauchen Menschen, die auch Fragen stellen und zuhören können. Und
jeder braucht jemanden, dem er etwas erzählen kann, der sich alles
anhört, der Verständnis zeigt. Man wirkt auch laut einer Studie,
wie ich gelesen habe, sympathischer, wenn der eigene Redeanteil
geringer ist als beim anderen. Denn jeder Mensch ist ein gewisser
Narrzist und möchte gehört und verstanden werden. Wir wollen, dass
der andere uns Aufmerksamkeit schenkt, dass wir gehört, gesehen
werden, dass der andere mit uns fühlst und uns versteht. Und das
geht nicht, wenn beide pausenlos reden. Aktives Zuhören, was ich
recht gut kann und auch viele andere ruhigen Menschen, ist so
wertvoll, für mich wertvoller, als zu prahlen, was ich tolles kann
und erlebt habe.
Nicht
auf eine Eigenschaft reduzieren
Ich
bin zwar ruhig, aber ich will mich nicht mehr nur darauf reduzieren
lassen. Natürlich macht das schon viel meiner Persönlichkeit aus,
aber es ist nicht alles. Ich bin wie alle anderen ein vielseitiger
Mensch. Und wir sind auch nicht immer alle gleich, wie wir uns geben
hängt auch sehr von der Situation und von den Menschen ab, mit denen
wir zu tun haben. Deswegen will ich auch nicht sagen, dass ich
einfach nur ruhig bin, ich kann es sein, aber genauso gibt es
Momente, in denen ich alles andere als ruhig bin. Ich bin mehr als
nur ruhig, es ist nur eine Eigenschaft, doch in mir steckt viel mehr.
So wie es auch meine ehemaligen Klassenkameraden gesehen haben.
Und
das war es, womit ich mein Leben lang zu kämpfen hatte. Dass ich
eben mich selbst zu sehr darauf reduziert habe, aber nicht die
Stärken und meine eigenen Eigenschaften gesehen habe. Und dass ich
nicht gesehen habe, dass diese Eigenschaft eben nicht starr ist,
sondern sich wandeln kann. Inzwischen kann ich diese Eigenschaft viel
besser akzeptieren und sogar wertschätzen. Ich fühle mich
inzwischen auch nicht mehr so von anderen abgegrenzt wie früher.
Inzwischen habe ich viele andere kennengelernt, die ähnlich ticken,
manche Menschen können sogar noch ruhiger sein, was eher die
Ausnahme ist. Ich bin also nicht allein damit und es ist in Ordnung,
dass ich so bin wie ich bin.
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