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Wenn Narben Geschichten erzählen

Heute geht es um ein sehr persönliches Thema, von dem selbst nicht mal alle meine Freunde wissen. Mit dem dunklen Kapitel in meinem Leben habe ich eigentlich abgeschlossen. Heute erzählen nur noch meine Narben von meinen Verletzungen – innerlich wie äußerlich.

Es ist gar nicht so einfach so etwas anzusprechen: Ritzen, Depressionen, Selbstmord. Alles harte Themen, die sich nicht unbedingt für den Einstieg von Smalltalk eignen. Doch wem ich davon erzähle, der kann sich sicher sein, dass ich ihm vollkommen vertraue. Ich habe diese dunkle Phase in meiner Jugend bisher vor den meisten geheim gehalten. Doch damit soll Schluss sein. Ich will mich nicht länger dafür schämen oder es für mich behalten. Darum schreibe ich heute über mein dunkelstes Geheimnis.

Schon immer ruhig gewesen

Doch um davon zu erzählen, muss ich ein wenig ausholen. Ich denke, dass eigentlich alles mit meiner Kindheit angefangen hatte. Ich war eigentlich schon von Grund auf ein sehr stilles Mädchen, verschlossen und introvertiert. Damals fiel es mir schon schwer, auf andere zuzugehen und Freunde zu gewinnen. In der Schule fiel ich eben wegen meiner wortlosen Anwesenheit auf. Es regnete schlechte Mitarbeitsnoten, weil ich mich nicht oft genug meldete. Und anscheinend war ich auf für die anderen ein wandelndes Geheimnis, keiner konnte so recht etwas mit mir anfangen. „Langweilig“ nannten sie mich und hielten Abstand. Das war mir recht. Ich wollte eigentlich auch nur Luft sein, einfach verschwinden und niemals irgendwie auffallen.

Mein Ruhigsein war schon immer ein Wesenszug von mir. Doch ich denke, dass gerade die Probleme in meiner Familien das alles verstärkten und zu einem noch größeren Problem machten. Meine Mutter heiratete einen neuen Mann, nachdem mein Vater früh verstorben war. An sich war er eigentlich ganz nett, lieb zu Kindern, fleißig und gesellig. Aber damals kannte meine Mutter wohl nur eine Seite von ihm. Er hatte noch zwei andere ältere Töchter, war geschieden und irgendwann bekamen wir auch raus warum: Er hatte ein starkes Alkoholproblem, was ihm bei der Jobsuche schwere Probleme machte. Und schlussendlich auch dazu führte, dass ihn wohl seine erste Frau verließ. Womöglich

Wir bekamen das alles aber erst viel später mit. Es war nicht so, dass er gewalttätig wurde, aber er machte aggressiven Psychoterror. Redete ständig auf mich ein, hinterfragte und kritisierte alles, ließ mich wissen, dass ich einfach nicht genug war. Und das machte mich fertig. Mein ohnehin kleines Selbstwertgefühl schrumpfte immer mehr, bis es fast nicht mehr vorhanden war. Alles, was ich machte, wurde irgendwie kommentiert und verurteilt. Jeder einzige kleine Fehler gleich bestraft. Kein Wunder, dass ich mich nichts mehr traute. Ich hatte Angst davor, verurteilt und bestraft zu werden, wenn ich wieder etwas falsch machte.

Angst vor Fehlern

Und das wirkte sich eben auf mein gesamtes Verhalten aus. So wurde ich immer gehemmter im Umgang mit anderen. Ständig stand ich unter Druck, alles richtig zu machen. Um dem zu entgehen, verschloss ich mich und hielt andere auf Abstand. Ich wollte mich nicht lächerlich machen, Fehler vor den anderen machen und ausgelacht werden. Also blieb ich lieber stumm, denn wer nichts sagt, kann auch nichts falsches sagen. Aus dieser Angst wurde dann eine waschechte soziale Phobie, wie ich aber erst viele Jahre später erkannte. Ich traute mich fast gar nichts mehr, wenn andere Leute da waren. Einkaufen, rausgehen, Bus fahren – alles Situationen, die ich hasste und nur schwer ertrug.

Und die Schule war natürlich die absolute Hölle für mich: Ständig musste ich Vorträge halten, an die Tafel, musste mich melden, etwas vorsingen, Gedichte vortragen. Die reinste Qual für jemanden mit sozialer Angst. Mit der Zeit aber schien ich irgendwie doch so etwas wie Schulkameraden gefunden zu haben, die sich mit mir anfreunden wollten. Zumindest glaubte ich das. Aber eigentlich hielt auch ich sie auf Abstand, hielt mein wahres Ich unter Verschluss.

Ich fühlte mich von niemandem verstanden, ich schaute auf alle nur herab und hasste die Welt. Und am meisten hasste ich mich selbst dafür, dass ich so war und nichts dagegen tun konnte. Ich fühlte mich auch von niemandem so wirklich gemocht oder gar geliebt. Es gab für mich keinen Ort, weder Zuhause noch in der Schule, an dem ich mich wohl fühlte. Irgendwie fühlte ich mich verlassen und fand einfach keinen Platz in der Welt.

Ich hatte nur meine damals beste Freundin, sie war mein einziger Anker in dieser verdammten Welt. Mit ihr konnte ich alles durchstehen. Auch sie hatte mit Problemen zu kämpfen, war in einer ähnlichen Situation: Schwierige Familiensituation, keine Freunde. Unser Leid schweißte uns zusammen und machte uns zu Verbündeten gegen diese düstere Welt.

Ritzen gegen den Schmerz

Sie fing zuerst an, sich selbst zu verletzen. Mal schnitt sie sich in die Unterarme oder verbrannte sich mit Zigarettenstummel. Schmerzhaft. Und ich eiferte ihr nach. Wobei der richtige Anstoß kam erst durch einen Manga, den ich gelesen hatte. In diesem ging es auch um selbstverletzendes Verhalten und Selbstmord. Ich war damals fasziniert davon, wollte wissen, wie es sich anfühlte, die Klinge auf der Haut zu spüren. Würde es wehtun? Würde es mir helfen, den inneren Schmerz zu vergessen? Und so fing es alles an.

Ich kann gar nicht mehr genau sagen, warum ich es tat. Im Nachhinein kann ich mir alle möglichen Gründe dazu einfallen lassen: Ich denke, dass es für mich vor allem ein Ventil war, um meine seelischen Schmerzen irgendwie nach außen zu tragen. Es war aber auch eine Art Selbstbestrafung. Ich hasste mich selbst und auch meinen Körper und tat mir deswegen selbst weh. Irgendwie dachte ich mir, dass ich es verdient hatte, so zu leiden. Aber so richtig gut fühlte es sich nie an. Ich musste dabei immer weinen, vielleicht genoss ich auch das stille Leiden und wenn ich mein Blut laufen sah. Es machte süchtig, ich konnte gar nicht mehr damit aufhören und ritzte mich immer weiter. Und so reihte sich eine Narbe nach der anderen an.

Das fiel dann irgendwann auch anderen in der Schule auf, die mich dann darauf ansprachen. Meine Ausrede dazu war: Das war eine Katze. So richtig glauben konnte es keiner, aber vielleicht versuchten sie es. Weil alles andere nur schwer zu verdauen wäre.

Einmal wurde ich auch Zuhause von meiner Mutter erwischt. Nicht direkt, aber sie sah, dass ich ein Rasiermesser versteckte. Doch sie stellte, wie so oft, einfach keine Fragen, wollte nichts davon wissen. Auch sie versuchte, meine Ausrede mit der Katze zu glauben. Vielleicht hätte sie es nicht ertragen, wenn sie die volle Wahrheit angenommen hätte.

Selbstverletzung half mir irgendwie, das Leid zu ertragen. Doch es wurde nicht wirklich besser. Ich glaube heute, dass ich damals in ein tiefes Loch gefallen bin. Ich schleppte mich nur mühselig von Tag zu Tag, hatte kaum Motivation und Freude im Leben. Für mich erschien damals alles schwarz. Um all das Negative loszuwerden, schrieb ich Gedichte, die von Leiden und Selbstmord handelten.

Leben beenden

Mit der Zeit verstärkte sich mein Wunsch nach Selbstmord immer mehr. Meine Eltern stritten sich ständig, es war der reinste Terror Zuhause. In der Schule fühlte ich mich immer wieder ausgeschlossen, richtig unbeliebt. Wie lächerlich es damals war, als einige Jungs dann noch eine Art Beliebtheits-Liste herumgaben und ich dann dann so ziemlich mit auf den letzten Plätzen war. Damals hatte mich das als Jugendliche echt mitgenommen und noch deprimierter gemacht als ohnehin schon. Ich wurde von niemandem so wirklich akzeptiert. Wer wollte mich schon in der Welt haben?

Meine Selbstverletzungen wurden immer schlimmer und stärker. Ich wollte mich insgeheim eigentlich auch immer dabei selbst umbringen. Aber ich brachte es nicht über mich. In den schlimmsten Momenten kamen dann plötzlich meine Mutter und meine beste Freundin auf. Ich würde bei allein in der Welt lassen. Sie hätten ohne mich niemanden mehr. Das wollte ich ihnen nicht zumuten, ich wollte nicht, dass sie wegen mir leiden und weinen. Und das hielt mich dann doch im Endeffekt immer am Leben.

Dunkles Kapitel für immer geschlossen

Nach einiger Zeit wurde es allerdings dann doch besser. Ich entschied mich, mein Leben in die Hand zu nehmen, mich zu verändern und endlich offener zu werden. Das war das beste, was mir passieren konnte. So bekam ich endlich mehr Zugang zu anderen Menschen, fand endlich mehr Freunde und wurde zu einem positiven Menschen. Mein Depression und auch meine Selbstmordgedanken waren adé. Endlich. Meine Mutter ließ sich zu der Zeit von meinem Stiefvater scheiden, er zog aus, jeder ging seiner Wege. Das alles zusammen brachte diesen wunderbaren Wandel. Ein neues Kapitel konnte aufgeschlagen werden.

Und bis heute hat mich die Depression und all der andere Mist nicht mehr eingeholt. Es gibt sicher mal immer Tage und Phasen, wo es einem nicht so gut geht. Aber die Zeiten gehen auch wieder vorbei. Das, was ich damals gefühlt habe, wird hoffentlich nie wieder kommen.

Ich fällt mir heute leichter, darüber zu schreiben und zu reden als damals. Immer wenn ich damals davon sprach, musste ich in Tränen ausbrechen. Einfach weil da so viele Gefühle mit hochgekommen sind und die Wunden noch immer nicht verheilt waren. Doch inzwischen kann ich relativ neutral wieder zurückschauen, auf diese besonders schwere Zeit, die mich gezeichnet und geprägt hat.

Doch würde ich anderen auch einfach so davon erzählen können? Wohl kaum. Es ist noch immer etwas sehr persönliches, was nicht viele von mir wissen. Offenbare ich mich, würde ich mich super verletzlich machen. Ich kann das nur bei jemandem, dem ich wirklich vertraue und dem ich mein wahres entblößtes Ich zeigen kann. Manchmal habe ich mich geschämt und einfach nicht getraut, es zu erzählen, weil ich Angst hatte, was andere von mir denken. Da ist immer noch so das Bild im Kopf einer Verrückten, die psychische Probleme hat und sich daher selbst verletzt. Mag sein, dass das damals auf mich zutraf, aber heute sicherlich nicht mehr. Ja, die Narben und Spuren sind geblieben, aber ich bin inzwischen ein anderer Mensch geworden, der daraus gelernt hat. Der gelernt hat, sein Leben zu verändern und ein besserer Mensch zu werden.

Ich wünsche mir ganz sicher nicht, diese Phase wieder durchzumachen. Was ich damals nicht sehen konnte, erkenne ich heute umso mehr: Ich glaube, dass diese Krise einen Sinn hatte und mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich bin. Diese Krise hat mir gezeigt, dass ich mich verändern kann, wenn ich will. Dass ich mich selbst hochziehen kann, dass auch dunkle Zeiten wieder vorbei gehen. Selbstmitleid bringt nichts, nur Handeln kann etwas verändern. All der negative Shit hat mich stärker gemacht. Das war für mich eine große Herausforderung, die ich bestanden habe. Doch ein bisschen bereue ich es schon, meinen Körper verunstaltet und verletzt zu haben. Inzwischen habe ich gelernt, mich zu akzeptieren und vielleicht auch ein wenig zu mögen. Ich kann es nicht glauben, was ich meinem Körper angetan habe und würde es ganz sicher nicht mehr wieder tun. Doch auf der anderen Seite bin ich irgendwo auch stolz auf meine Narben. Sie erinnern mich an eine harte Zeit, die ich überwinden konnte. Sie erinnern mich an meine Schmerzen, an all das Leid, was ich durchlebt. habe. Ich will es nicht vergessen, ich will mich immer daran erinnern. Denn all das ist Teil meines Lebens. So wie auch die Narben zu mir gehören und meine Geschichte erzählen.


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