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Es ist okay, mal zu weinen

Ich gebe es zu: Ich bin eine echte Heulsuse. Bei jeder Kleinigkeit rollen bei mir die Tränen. Ob es nun Traurigkeit, Wut oder auch einfach nur Freude ist. Ich weine gern und viel. Früher habe ich mich dafür immer geschämt. Doch heute sehe ich das etwas anders.

Ich weine wirklich sehr oft. Kaum läuft in einer Serie oder in einem Film eine berührende und traurige Szene – schon sind meine Augen ganz nass. Ich bin wahrscheinlich so in der Story dabei, fiebere so mit den Figuren mit, dass ich dadurch sehr berührt bin. Es reicht schon, jemanden weinen zu sehen. Und schon muss ich auch gleich mitheulen. Die Art von Weinen hat für mich etwas total positives. Ich fühle mich danach wie neugeboren. Es ist wie eine Art Katharsis. Ich durchlebe die Achterbahn der Gefühle der Figuren in den fiktiven Geschichten mit. Dieses Berührt werden bereichert mein Leben. Und darum ist es mir egal, ob Leute mich dafür auslachen, wenn ich schon wieder weinen muss. Na und? Dann ist es so. Ich genieße es eben, mit mitreißen zu lassen.

Wenn ich mich total freue oder jemand etwas sagt oder macht, was mich extrem positiv berührt – dann heule ich auch. Das sind aber wirklichTränen der Freude. Ich habe das Gefühl, dass meine Freude nur so überquillt und ich ihr keinen anderen Ausdruck verleihen kann, außer zu weinen. Und da erkennen wir: Tränen sind nicht unbedingt immer nur ein Ausdruck von Trauer. Tränen kommen immer dann, wenn die Emotionen, ob positiv oder negativ, nicht mehr zu bändigen sind. Wenn sie einfach zu stark werden und einfach raus müssen.


Weinen als Form der Empathie

Ich bin halt auch jemand, der sich gut in andere hineinversetzen kann. Mir fällt es beispielsweise sehr schwer, nicht zu weinen, wenn ich einen Bekannten oder eine Freundin weinen sehe. Da fühle ich direkt mit. Das geht einfach von ganz alleine, ohne, dass ich das wirklich steuern kann. Ich sehe jemanden, wie er leidet und traurig ist. Und fühle es auch direkt. Die Emotionen überrollen mich und schwupsdiwups, weine auch ich. Was andere fühlen, das kann ich natürlich nie ganz wissen, ich stecke ja auch nicht in den Menschen. Aber ich kann es erahnen und versuche es, nachzuempfinden. Dann mitzuweinen, ist für mich eine Chance, dem anderen zu zeigen, dass ich mit ihm fühle, dass ich sein Leid teile. Gewissermaßen ist es auch ein wenig Trost spenden: „Hey, du bist nicht allein, ich bin für dich da.“ Der andere fühlt sich mehr mit mir verbunden, weil er sieht und spürt, dass ich auch emotional total an seiner Situation teilhabe.

Ich habe es früher immer als eine Unart angesehen, dieses ständige Rumheulen. Habe mich dafür geschämt, obwohl es etwas zutiefst Menschliches ist, seine Gefühle so zu zeigen. Warum fällt es uns aber so schwer, einfach ohne Scham und schlechtes Gewissen zu weinen? Warum wird das so verurteilt?


Warum Weinen abgelehnt wird

Die Gesellschaft findet Weinen nie gut. Die Leute sind regelmäßig überfordert, wenn sie jemanden weinen sehen. Das fängt schon bei Babys und Kindern an. An sich ist es ganz süß. Aber irgendwann hört der Spaß auf, wenn mit dem Weinen nicht mal Schluss ist. Am besten also gar nicht weinen. Sobald Kinder weinen, wird schnell reagiert, es wird schnell getröstet und das Weinen wird unterbunden. Wir kriegen das schon von klein auf mit, dass Weinen eher etwas negatives ist, was man am besten nicht in der Öffentlichkeit macht. Das führt nur zu Ärger und Scham.

Man belastet seine Mitmenschen damit, wenn man so offen weint. Menschen sind peinlich berührt, überfordert mit diesem Gefühlsausbruch. Und keiner will jemanden weinen sehen, weil er sich dann auch schlecht fühlt. Dann muss man ja irgendwie reagieren und trösten. Und viele halten so eine Traurigkeit einfach nicht aus, wissen nicht, wie sie damit umgehen.

Weinen passt halt auch einfach nicht in unsere „Immer-happy-sein“-Gesellschaft. Oder sagen wir mal in unsere überhaupt emotionsarme Gesellschaft. Auf der Straße sieht man ja meist entweder regungslose Mimik oder griesgrämige Leute, denen mal ein Lächeln gut tun könnte. Und wenn du dann noch mit Weinen kommst, bricht die ganze Welt zusammen. Da sind plötzlich so viel Emotionen, das sind Menschen gar nicht mehr gewöhnt, im ganz normalen grauen Alltag.

Weinen hat auch immer etwas von Kontrollverlust: Der kann sich nicht zusammenreißen, wenn der einfach so anfängt zu heulen. Bei Babys und Kindern mag man das noch tolerieren, auch wenn das Weinen sich mit Schreien vermischt und dann richtig nervtötend werden kann. Aber Erwachsene sollen am besten gar nicht weinen. Die müssen ihre Gefühle unter Kontrolle haben, vor allem die negativen. Nicht nur Trauer, auch die Wut.

Wobei Wutausbrüche auch noch eher toleriert werden als Heulkrämpfe. Und die eben nur in Ausnahmefällen, nach einem Todesfall, nach Trennungen oder bei Krankheiten. Weinen wird also zu etwas, was sich am besten gar nicht im Alltag abspielen sollte. Was in Normalfällen einfach nicht vorkommen soll. Und am besten weint man auch nicht auf Arbeit oder in der Öffentlichkeit. Sonst verliert man noch sein Gesicht.


Keine Gefühlsausbrüche erlaubt

Erwachsene werden zu Maschinen, immer diszipliniert, keine Fehler machen, es muss immer alles stimmen. Kein Wunder, dass man sich antrainiert, Masken zu tragen. Weil man eben bestimmte Rollen und Erwartungen erfüllen muss. Emotionen sind etwas fürs Private und Intime. Gefühle stehen unseren Rollen, die wir täglich spielen müssen, im Wege. Sie hindern uns daran, wirklich zu funktionieren. Emotionen würden unsere Masken zerbrechen lassen und das kann man sich als Erwachsener einfach nicht leisten.

Gefühle zeigen, vor allem das Weinen, wird mit Schwäche verbunden. Jemand, der weint, hat nicht nur seine Gefühle nicht im Griff. Nein, der ist auch schwach. Der zeigt, wie verletzlich er ist. Und das sollte man vor allem als Erwachsener lassen. Erwachsene, so der Glaubenssatz, müssen stark, souverän auftreten. Sonst nimmt man sie nicht mehr ernst.

Authentizität – ein Fremdwort für die meisten Menschen und Erwachsenen. Kinder leben meist authentisch, sie verbiegen sich nicht, zeigen sich, wie sind. Und weinen eben auch einfach, wenn ihnen danach ist. Sie denken nicht darüber nach, ob das gut oder schlecht, sie schämen sich nicht. Doch mit zunehmendem Alter wird auch den Kindern und Heranwachsenden eingetrichtert, dass sie sich zu benehmen haben. Nicht immer so viel weinen und wütend toben, lieber beherrschen und lächeln. Das Negative einfach weglächeln. Und so war das eben bei mir auch.


Die vielen Facetten des Weinens

Früher war das schlimmer mit dem Weinen. Es gab in der Schule immer wieder Situationen, in denen ich mich ausgegrenzt fühlte. Ich konnte dieses Gefühl nicht ertragen und spürte jedes Mal, wie die Verletztheit hochkommen wollte. Mit aller Gewalt unterdrückte ich das Gefühl, wollte es wegdrücken, weg haben. Doch je mehr ich dagegen ankämpfte, desto schlimmer wurde es. Desto mehr wollten die Tränen raus. Und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Wie eine Explosion schossen die Emotionen und die Tränen aus mir. Und wenn einmal schon Tränen fließen, hört es nicht mehr auf. Wie sehr habe ich mich dafür geschämt, vor der versammelten Klasse zu heulen. Doch trotzdem spürte ich eine gewisse Erleichterung. Endlich konnte ich mich zeigen, wie ich wirklich bin. Habe ich mich früher als Kind und Teenager immer verstellt und mich verschlossen, war ich wenigstens mit meinen Gefühlen authentisch.

Auch heute kommt es immer mal wieder zu solch unangenehmen Situationen, in denen ich den Tränen nahe bin. Besonders wenn ich auf Arbeit von Kollegen oder der Chefin kritisiert werde, wenn ich Stress mit jemandem habe, merke, dass jemand auf mich sauer ist. Dann spüre ich die Tränen hochkommen. Das Weinen hat dann gar nicht mal etwas mit Traurigkeit zu tun. Vielleicht mehr mit Verletztheit. Oder auch mit Wutgefühlen. Ich fühle mich dann immer so hilflos, überfordert, auch mal ungerecht behandelt. Ich bin dann auch oftmals sauer auf die Personen, mit denen ich dann gerade nicht klar komme. Ich finde es sehr seltsam, dass ich gerade dann weine, wenn ich eigentlich total wütend bin. Vielleicht ist Weinen auch eine Reaktion meines Inneren, das versucht, mit diesen intensiven Gefühlen klarzukommen. Es braucht ein Ventil, damit mich die Emotionen nicht komplett überfordern. Alles muss raus.

Vielleicht ist es aber auch so, dass die Wutgefühle einfach zu komplex sind, weil so viele verschiedene Emotionen mit reinspielen. Vielleicht legt sich die Wut auch über etwas ganz anderes. Meist ist es so, dass wir Traurigkeit und Verletztheit nicht spüren wollen, das sind zu intensive Gefühle, die einen in ein Loch ziehen. Und dann kommt die Wut, die voller Energie ist, die mich vorantreibt, die mich aus dem Loch wieder rauszieht. Das ist mir öfter schon aufgefallen. Wenn ich eigentlich zutiefst verletzt war, habe ich einfach versucht, wütend zu werden. Vor allem wütend auf die Person, die mich verletzt hat. Und das hat meist auch funktioniert. Ich habe mich danach wieder stärker gefühlt, nicht mehr so machtlos wie davor. Und doch konnte ich gegen die Tränen, die meist hochkamen, nichts tun.

Besonders im beruflichen Kontext ist mir das noch viel unangenehmer, zu weinen. Weil das einfach so unprofessionell wirkt, wenn man bei Kollegen so seine Gefühle zeigt. Da gilt es umso mehr, sich unter Kontrolle zu haben. Und bei Kollegen will ich eigentlich auch eine gewisse professionelle Distanz wahren, Tränen würden mir da im Weg stehen. Wie könnte ich jemals der Chefin oder den Kollegen wieder in die Augen sehen, wie könnten sie mich ernst nehmen, wenn ich plötzlich losheulen würde? Das wäre mir unglaublich peinlich. Ich gehe da vielleicht etwas zu streng mit mir um. Aber vor Kollegen und der Chefin will ich mir einfach keine Blöße geben.


Die Tränen, von denen niemand weiß

Tatsächlich ist es heute so, dass ich selten mal vor anderen weine. Außer eben bei traurigen Filmen und Serien. Das ist dann die Ausnahme. Aber ansonsten habe ich meine negativen Gefühlen meist eher im Griff. Die Tränen kommen tatsächlich immer dann, wenn ich allein bin. Dann fühle ich mich sicher, geborgen, dann kann ich meinen Emotionen freien Lauf lassen. Und dann heule ich aber auch wirklich hemmungslos. Das ist mir dann egal, wie ich dabei aussehe. Sieht ja kein Mensch. Ich mache das dann nur für mich. Und es tut mir gut, für mich zu sein und die Tränen fließen zu lassen.

Aber schon irgendwie traurig, oder? Ich fürchte, dass es vielen so geht, dass sie lieber alles mit sich ausmachen, sich nachts in den Schlaf weinen und niemand etwas davon mitbekommt. Wir überspielen das häufig, sagen unseren Mitmenschen, es ginge uns gut. Aber das stimmt gar nicht. Wir zwingen uns zum Lächeln, aber niemand merkt, dass das alles nur Fassade ist. Ich bin meist auch gut darin, das Traurigkeit zu überspielen.


Weinen kann so befreiend sein

Manchmal möchte ich einfach auch nur weinen, weil es genau das ist, was ich brauche. Wenn ich beispielsweise bewusst oder unbewusst traurige Lieder höre. Und plötzlich triggern die etwas in mir und Traurigkeit, Melancholie kommt hoch. Dann ist das für mich total schön, in dieser Traurigkeit zu sein. Ich will in dem Moment auch nicht schnell wieder davon loskommen. Ich will die Traurigkeit annehmen, festhalten, sie richtig ausleben. Wenigstens für die paar Minuten will ich mich meiner Melancholie vollkommen hingeben. Vielleicht geht es einigen von euch auch manchmal so? Diese Art von Traurigkeit zu spüren, lässt sich gar nicht beschreiben. Es hat etwas total Heilsames. Wenn sonst die Trauer in einem schlummert, Verletzlichkeit sonst verdrängt und verschlossen wird, dann kommt sie in solchen Momenten hoch. Mit voller Wucht. Nach dem Weinen fühle ich mich viel leichter, es fühlt sich so an, als würde eine schwere Last von mir fallen, Mein Herz fühlt sich leichter an. Es hat etwas total Befreiendes und darum genieße ich das auch. Klingt komisch, ist aber so.


Warum wir mehr Gefühle zeigen sollten

Auch heute noch, schäme ich mich, wenn ich vor anderen weine. Das hat wahrscheinlich etwas mit meiner Kindheit zu tun. Aber eben auch mit dieser Vorstellung, dass man als erwachsene Person nicht weinen sollte, weil das einfach peinlich ist, für einen selbst und für andere unangenehm wird.

Aber wenn ich jetzt intensiver darüber nachdenke, finde ich das sehr bedenklich: Weinen und die Gefühle wie Wut und Traurigkeit sind etwas zutiefst Menschliches. Sie machen uns erst zu Menschen. Was wären wir ohne diese Emotionen? Wirklich nur Maschinen, die funktionieren? Ist es nicht einfach mal total befreiend, wenn wir unseren Gefühlen freien Lauf lassen? Viel zu oft verstellen wir uns in der Gesellschaft, wollen es immer anderen recht machen, tragen unsere Masken, nur um zu funktionieren. Doch wäre es nicht besser, mal in sich hineinzuhören, zu schauen, was da ist. Welche Gefühle sind da? Gefühle wie Wut und Trauer wollen uns nichts Böses, sie wollen gefühlt werden, sie wollen uns Hinweise geben, meinen es ja eigentlich nur gut mit uns.

Weinen ist eigentlich kein Zeichen von Schwäche. Im Gegenteil: Es braucht viel Mut, sich seinen Gefühlen zu stellen. Zu seinen Gefühlen zu stehen und sie nach außen zu zeigen. Ich denke mir: Es ist doch eigentlich gut, wenn ich weine. Dann bin ich wirklich authentisch, dann zeige ich: Hey, ich bin ein Mensch mit Gefühlen. Und das ist gut so.

Lasst uns alle viel öfter mal in uns hineinhorchen und die Gefühle annehmen, die da sind. Auch negative Gefühle wie Wut und Trauer. Und lasst uns diesen Gefühlen mehr Raum geben. Viel zu oft drücken wir sie weg. Doch sie gehen nicht weg. Sie stauen sich immer mehr, bis wir irgendwann platzen. Gefühle finden immer einen Weg nach außen. Besser wäre es, diese Gefühle zu sehen, anzunehmen, sich mit ihnen zu beschäftigen. Und auch einfach mal zu weinen. Es kann wirklich sehr befreiend sein.

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