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Die Schüchternheit hat mich immer noch im Griff



Sie hat mich immer noch nicht ganz losgelassen: meine Schüchternheit. Mal spüre ich sie stärker, mal scheint sie ganz weit weg zu sein. Dann denke ich, sie besiegt zu haben. Dass sie mein Leben nicht mehr kontrolliert. Aber da liege ich wohl falsch, denn ganz wird sie wohl nie verschwinden. Sie gehört zu mir wie mein Schatten. Sie zu verdrängen, wird nicht funktionieren. Ich muss also wohl oder übel mit ihr leben. Sie wird immer ein Teil von mir und meinem Leben bleiben.


Mein Leben mit sozialer Phobie

Früher war alles schlimmer. In der Schulzeit hatte ich riesige Angst, mich zu melden und etwas vor der gesamten Klasse zu sagen. Selbst wenn ich beim Bäcker ein Brot kaufen wollte, fühlte ich mich total verunsichert. Oder wenn ich in einen Bus einstieg und mich alle Anwesenden anschauten. In Gruppen habe ich nie den Mund aufbekommen. Lieber schweigen, als etwas Dummes sagen. Ich hatte Angst, mich zu blamieren. Von anderen abgelehnt zu werden, wenn ich mich ihnen so zeige, wie ich wirklich bin. Fast alle sozialen Situationen haben mich sehr verunsichert, ich habe mich für mich so geschämt. Es fühlte sich an, als würde ich auf einer Bühne stehen und alle schauen mich an. Bloß keinen Fehler machen, war immer mein Gedanke. Immer mehr zog ich mich zurück, distanzierte mich von den anderen. Ich schuf eine Mauer um mich herum, die mich vor anderen schützen sollte. Ich wollte nicht verletzt werden. Dabei habe ich nicht gemerkt, wie ich mich selbst damit eigentlich verletzte, wie viele Möglichkeiten ich mir damit nahm.

Das wurde glücklicherweise mit den Jahren immer besser. Irgendwann konnte ich diese Mauer einreißen, dahinter schauen, was da war. Und erkennen, dass es gar nicht so übel war, mit Menschen zusammen zu sein. Dass sich nicht die anderen von mir distanzierten, weil ich komisch und anders war. Sondern dass ich diesen Abstand selbst erschaffen habe. Doch als ich ihn endlich verringerte, merkte ich, wie gut mir das tat. Endlich hatte ich mich aus meinem eigenen Käfig befreit. Ich wurde endlich offener, ging auf andere Menschen zu. Ich lachte mehr, ging aus mir heraus, öffnete mich mehr und mehr. Ich erkannte mich gar nicht mehr wieder.


Alles auf Anfang

Seitdem ist wirklich viel passiert, auf das ich sehr stolz bin. Ich baute mir in einer neuen Stadt mit meinem Freund ein neues Leben auf. Es war eben ein Neuanfang in vielerlei Hinsicht. Hier kannte mich keiner, hier konnte ich mich selbst erfinden. Doch anfangs fiel es mir schwer, Anschluss in der Uni zu bekommen. Freunde hatte ich dort eigentlich keine. Alles wieder auf Anfang. Ich musste mich also noch mehr überwinden als davor. Das war ein langer Prozess, sich immer wieder auf neue Menschen einzustellen, sich ihnen zu öffnen. Aber auch das funktionierte mit der Zeit. Es hat sich gelohnt: Heute kann ich auf viele Freundschaften und Bekanntschaften zurückblicken, die ich mit viel Mut aufbauen konnte. Inzwischen fällt es mir auch gar nicht schwer, auf andere zuzugehen, das Gespräch anzufangen, am Laufen zu halten.

Einige Leute, die mich in der Freizeit als eher extrovertierte Person kennen, die gern Small Talk führt, würden nie auf die Idee kommen, dass ich mal soziale Phobie hatte. Sie sehen in mir nicht mehr das total schüchterne kleine Mädchen, sondern eine selbstbewusste, lebensfrohe junge Frau.


Dilemma mit den verschiedenen Ichs

Doch manchmal frage ich mich: Bin das wirklich ich oder ist das nur wieder eine Rolle, die ich da spiele? Spiele ich das nur, weil ich gerne so sein möchte? Manchmal zweifle ich daran, erkenne mich kaum wieder. Vielleicht ist es eben auch ein Teil von mir. An sich bin ich stolz auf mein neues Ich. Aber ich weiß auch: Da tief in mir drinnen gibt es noch ein anderes Ich. Das mag jetzt total schizophren klingen. Aber haben wir nicht alle irgendwie verschiedene Gesichter, verschiedene Ichs je nach Situation? Unsere Persönlichkeit ist nie statisch, sie verändert sich, sie passt sich ständig an andere Menschen und Begebenheiten an.

Es gibt da tief in mir drinnen ein verletzliches, sehr schüchternes Ich, das immer noch Angst vor Kritik und Ablehnung hat. Und dieses Ich taucht leider aus den Tiefen meines Inneren immer wieder auf. Zu glauben, dass es überwunden wäre, ist ein Fehlschluss. Es ist immer noch da, mal mehr und mal weniger präsent.

Dieses Ich trägt noch etwas von den Resten meiner sozialen Phobie. Die habe ich heute eigentlich so gut wie überwunden. Von Phobie würde ich heute nicht mehr sprechen, dafür komme ich einfach zu gut mit anderen Menschen klar. Dafür habe ich zu wenig Angst. Aber zu sagen, dass da überhaupt nichts mehr wäre, wäre gelogen. Die Phobie ist in dem Maße geschrumpft auf eine soziale Ängstlichkeit, eben Schüchternheit. Und die wird wohl immer ein Teil von mir bleiben.

Vielleicht spüre ich die Schüchternheit nicht mehr so sehr, weil die typischen Situationen, in denen sie getriggert wurde, einfach seltener geworden sind. Während der Schul- und Unizeit mussten viel mehr Referate gehalten werden, ich musste viel öfter vor anderen sprechen, etwas vorlesen. Erschwerend kam in der Unizeit, dass ich keine wirklichen Freunde hatte und die Leute ständig wechselten, mit denen man in Seminaren und Vorlesungen zu tun hatte. Da wurde viel mehr Gruppenarbeit verlangt, gefühlt kamen viel mehr soziale Situationen hinzu, die mich überforderten.

Heute sieht mein Alltag ganz anders aus. Zum einen habe ich Kollegen, die eben nicht oft wechseln. Die meisten kenne ich inzwischen seit mehr als zwei Jahren. Man verbringt eben den Arbeitsalltag und die Mittagspausen zusammen. Da gewöhnt man sich eben aneinander und vielleicht schafft das auch eine Verbundenheit und Teamzugehörigkeit. Es ist deutlich übersichtlicher mit neuen sozialen Situationen geworden. Zwar fiel es mir anfangs schwer, in den Mittagspausen von mir aus etwas zu erzählen. Mittlerweile geht es aber viel leichter und ich bin öfter mal diejenige, die ein Gespräch einleitet.

Durch die Pandemie arbeite ich fast nur noch im Homeoffice, kriege meine Kollegen kaum mehr zu Gesicht, höre sie nur in unseren Meetings. Einerseits kommt mir das Homeoffice sehr entgegen, kann ich beim Arbeiten so sein wie ich will. Da ist niemand, der dich beobachtet und kontrolliert, sehr befreiend. Keine unangenehmen Situationen oder komische Pausen beim Mittagessen. Ich bin ganz für mich, perfekt für jemanden, dem soziale Situationen im beruflichen Kontext mal unangenehm sein können.


Warum Homeoffice für Schüchterne ein Grauen ist

Doch die Schüchternheit wird bei mir trotzdem immer wieder mal getriggert. Stichwort: Teams Meetings. Täglich treffen wir uns digital und besprechen, was am Tag so ansteht, was geplant ist und was gemacht werden soll. Das ist sinnvoll, keine Frage. Aber mir ist es jedes Mal so unangenehm, etwas zu sagen. Ich mag es generell nicht so sehr, vor Gruppen zu sprechen, zumindest im beruflichen Kontext. Doch digitale Meetings setzen dem ganzen noch einen drauf. Sie erinnern mich an das verhasste Telefonieren. Man hört sich selbst und weiß, dass auch alle anderen gespannt und aufmerksam zuhören. Dabei sieht man aber keine Reaktionen. Man ist noch fokussierter auf das Gehörte als ohnehin. Dummerweise verspreche ich mich dann öfter mal, wenn ich zu Reden anfange. Ich könnte da jedes Mal in Grund und Boden versinken und frage mich: Was denken nur die anderen von mir? Halten die mich für total inkompetent? In Meetings etwas zu sagen, finde ich tatsächlich noch schlimmer als das reine Telefonieren, weil da einfach mehr Leute dabei sind. Sehr unangenehm. Bereits bevor ich etwas sage, spüre ich meinen Herzschlag schneller werden. Und bin dann immer sehr froh, wenn ich das wenige, was ich sagen muss, endlich hinter mir habe.

Noch viel schlimmer als die täglichen Meetings empfinde ich unsere Medienkritik-Runde, die einmal wöchentlich ist. Da ist jeder mal dran, sich unsere Beiträge der letzten Tage anzusehen und zu bewerten, was gut und was nicht so gut war. Da wir relativ viele Leute sind, passiert es nicht so oft, dass man nach dem einen Mal gleich wieder dran ist. Dennoch bleiben die Nervosität und das Unbehagen. Denn solche Meetings erinnern mich immer an Referate halten in der Schule oder der Uni. Nur eben nicht analog, aber digital. Und digital finde ich persönlich sogar noch schlimmer. Eben weil man sich die ganze Zeit Reden hört, weil eben alle genau zuhören, Fehler noch mehr auffallen und einfach kein Feedback bekommt. Das kommt mir dann immer wie Telefonieren nur mit vielen vor und ohne Reaktion der anderen. Und wenn dann noch die Technik spinnt, ist das Chaos perfekt. Für mich jedes Mal der reinste Horror.

Normale Referate sind schon schlimm genug, obwohl ich darin eigentlich immer gut war, hatte ich trotzdem Angst davor. Aber digitale Referate sind noch wesentlich schlimmer. Dabei hätte ich nie gedacht, dass es noch etwas Schlimmeres als das gibt.

Telefonieren war auch ohne Pandemie immer Teil meines Arbeitsalltags. Anfangs war ich total nervös, wenn ich jemanden anrufen musste. Inzwischen ist das nicht mehr so, zum Glück. Ich telefoniere ja auch meist mit meinen Kollegen, die ich schon kenne. Das Anrufen ist auch nicht das Problem. Vielmehr das Telefonat selbst. Vor allem wenn es noch im Großraumbüro war und alle zuhören konnten. Da war es mir besonders unangenehm etwas zu sagen, weil eben alle genau zuhören und jeden meiner Fehler mitverfolgen konnten. Jetzt im Homeoffice fällt das ja glücklicherweise weg. Und dennoch ertappe ich mich dabei, genau darauf zu achten, was ich sage. Da ist am anderen Ende der Leitung ja immer noch einer, der zuhört und das ganze auch bewerten kann, was ich sage. Es ist nicht so, dass ich mir das immer denke, aber unbewusst ist es leider doch in meinem Hinterkopf präsent.

Telefonieren ist sowieso eine Sache, die nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört, weil ich da immer ziemlich nervös werde. Auch wenn ich mit Freunden telefoniere ist das so, obwohl ich die ja sehr gut kenne. Ich bin nicht super aufgeregt, aber so eine leichte Nervosität ist leider immer da. Bei normalen Treffen ist die jedoch verschwunden. Telefonieren gehört also nach wie vor zu den Situationen, die meine Schüchternheit triggern.

Doch nicht nur im beruflichen Kontext taucht die Schüchternheit immer mal wieder auf. Auch privat, da seltener und nicht so intensiv.

Ich habe zwei Gruppen, die ich regelmäßig treffe, wo auch eben viel geredet wird. In meiner Selbsthilfegruppe für Soziale Phobie nehme ich mich sehr zurück, lasse lieber die anderen reden. Ich bin jedoch erstaunt, wie offen die anderen trotz ihrer Phobie über sich erzählen. Immer wenn ich dann dran bin, merke ich eine leichte Anspannung. Aber anders als beim Job ist es mir nicht total unangenehm und es fühlt sich befreiend an, vor der Gruppe zu sprechen. Manchmal rede ich auch wie ein Wasserfall und es fühlt sich an, als würden die Worte wie automatisch aus meinem Mund kommen. Als würde ich reden, ohne viel drüber nachzudenken. Das sind dann für mich diese Flow Momente, wo ich einfach alles laufen lassen kann.

Ich mag es tatsächlich auch nicht so sehr, mit Gruppen zusammen zu essen. Auch so ein Symptom von sozialer Phobie. Es war früher mal schlimmer. Von der Angst ist lediglich nur noch Unbehagen und Nervosität geblieben. Da ich allerdings immer sehr langsam esse und damit oftmals die Letzte bin, habe ich immer die Befürchtung, dass mir die anderen beim Essen zusehen. Und das finde ich wirklich sehr unangenehm.

Ich tanze für mein Leben gern Swing. Inzwischen bin ich wesentlich besser und selbstbewusster geworden, habe mich auch paar Mal getraut, andere Leute nach einem Tanz zu fragen. Doch ich muss auch da gestehen, dass es mir unangenehm ist, wenn ich bemerke, wie mich andere dabei beobachten. Vor allem wenn ich beim Tanzen Leute direkt ansehe, verunsichert mich das leicht und bringt mir aus der Fassung. Während ich tanze, versuche ich mich entweder auf meinen Partner oder auf einen Punkt im Raum zu konzentrieren. Das irgendwie auszublenden, dass da Menschen sind, die uns zusehen.

Beim Bouldern merke ich allerdings noch mehr, wie mich meine Schüchternheit daran hindert, etwas zu wagen. Wenn es besonders voll wird und überall Menschen sind, traue ich mich kaum mal etwas auszuprobieren, wo ich scheitern könnte. Ich stelle mir immer vor, die Leute würden mir zusehen und sich denken: „Mann, ist die schlecht!“ Ich komme mir dann erst Recht wie im Rampenlicht vor. All, was ich tue, wird von anderen beobachtet. Tatsächlich könnte das auch stimmen, denn auch ich beobachte andere beim Klettern. Aber meist bewerte ich das nicht mal. Ich schaue mir das an und denke nichts. Und vielleicht gucken mir die anderen gar nicht wirklich zu, weil sie zu beschäftigt mit anderen Dingen sind? Wieder ist da das Problem, dass ich mich selbst für zu wichtig erachte. Und was wäre schon so schlimm, wenn ich mal Fehler mache oder an etwas scheitere. Das ist kein Weltuntergang, jeder kennt das, hatte das mal durch. Hinderlich sind die Gedanken, bevor ich etwas tue. Wenn ich dabei bin, denke ich ja meist auch an nichts.

Auch wenn ich mit Leuten Small Talk mache, die ich kaum kenne, komme ich manchmal an meine Grenzen. Immer dann, wenn ich keine Ahnung mehr habe, worüber wir sprechen können. Dann entsteht so eine unangenehme Pause. Ich frage mich dann immer: Warum läuft das Gespräch nicht flüssig? Warum sagt der andere nichts? Findet der mich unsympathisch und langweilig? Will der gar nicht mit mir reden? Wie wirkt das auf andere? Ich muss schnell etwas sagen! Ich mache mir dann immer zu viel Gedanken, was ein generelles Problem ist.

Was haben all die Situationen gemeinsam? Es sind Situationen, in denen ich mich vor anderen offenbare, in denen ich etwas sagen muss. Und wo dann eben auch Fehler passieren können. Für mich sind das so typische Situationen, in denen ich etwas falsch machen und bewertet werden kann. Vermutlich fallen anderen Fehler nicht auf und vielleicht bewerten sie auch nicht, denken sich dabei nichts. Aber ich habe das trotzdem immer im Hinterkopf.

Der größte Knackpunkt bei sozialen Ängsten: Es sind meine Gedanken und Bewertungen, die diese Nervosität und die Sorgen erst aktivieren. Vielleicht sind die total unbegründet. Wahrscheinlich interpretiere ich mir zu viel, stelle mich zu sehr in den Mittelpunkt, obwohl mich sonst keiner beachten würde. Ich nehme mich selbst viel zu wichtig.

Ich muss lernen, meine eigenen Gedanken in solchen Situationen zu kontrollieren, zu hinterfragen und vielleicht auch einfach auszublenden. Weniger denken, mehr machen, egal, was andere von mir halten. Auch wenn ich viel offener und selbstbewusster geworden bin, habe ich noch immer mit einigen Situationen zu kämpfen. Und das ist nichts, wofür ich mich schämen muss. Es ist, wie es ist. Ich sollte lernen, das zu akzeptieren. So wie jeder andere Mensch eben auch seine Schwachstellen hat. Die Schüchternheit ist da, sie gehört zu mir und das gilt es zu akzeptieren. Doch ich arbeite dennoch daran, will mich aber nicht dafür verurteilen, dass ich so bin, wie ich bin.

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