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An mein früheres Ich: Danke, dass du nicht aufgegeben hast


Liebes „altes“ oder „junges“ Ich,

es ist schon komisch, dir zu schreiben. Schließlich gibt es dich ja eigentlich nicht mehr. Ist das jetzt gut oder nicht? Das vermag ich nicht sagen. Eigentlich möchte ich sagen, dass ich ganz froh bin, dass ich dich loslassen konnte. Doch gleichzeitig werde ich dich nie vergessen, bin ich froh, dass du ein Teil meines Lebens warst. Denn du hast mich zu der gemacht, die ich jetzt bin. Ohne dich würde es mich nicht geben. Du warst ich. Oder besser gesagt: Du bist ich. Ich bin du. Aber eigentlich auch nicht. Zumindest nicht ganz. Ich weiß, das klingt alles total schizophren und verrückt. Ja, mag sein, aber so ist es eben.


Ich bin nicht mehr die, die ich mal war

Ich habe dich schon irgendwie hinter mich gelassen. Denn die Person, die ich früher war, die du warst, die gibt es heute nicht mehr. Nicht mehr in dieser Form. Aber manchmal gibt es diese Momente: Da tauchst du wieder aus meinem tiefsten Inneren hervor. Und dann weiß ich: Du bist gar nicht wirklich weg. Du bist zu einem Teil von mir geworden. Doch ich habe mich verändert. Und darüber bin ich sehr froh.

Warum ich dir heute schreibe? Ich möchte dir danken und dir so viel sagen. Normalerweise schreibt man ja eigentlich eher an sein zukünftiges Ich. Heute geht es aber von der Zukunft mal in die Vergangenheit.

Gemeinsam möchte ich mit dir wieder in die Vergangenheit zurück. Gleichzeitig will ich dir Hoffnung geben und Kraft, das Vergangene loszulassen, dich endlich damit auszusöhnen.


Jeder Tag war ein Kampf

Ich weiß, es gab eine Zeit, in der du immer nur gekämpft hast. Jeder Tag war ein einziger Kampf. Ein Kampf ums Überleben. Nicht im herkömmlichen Sinne. Es war ein innerer Kampf. Du hast mit dir gerungen, ob du leben oder sterben solltest. Dein Leben war damals mehr als einmal auf Messers Schneide. Alles war so dunkel, schien so hoffnungslos zu sein. Jeder Tag glich dem vorherigen. Es gab eigentlich nichts, wofür es sich zu leben lohnte.

Von Tag zu Tag wuchs dein Wunsch, deinem Leid endlich ein Ende zu setzen. Das ist mir erst vor Kurzem wieder wirklich ins Gedächtnis gekommen. Ich war mal wieder in der Heimat, habe in meinen Schränken herumgekramt und dann all die Gedichte geschrieben. Sie sind alle in dieser Zeit entstanden, als es dir so richtig dreckig ging.

Keine Luft mehr zum Atmen, das Leben drückte dich mit voller Gewalt zu Boden. Du konntest dich nicht wehren. Anfangs hast du es versucht, aber es wurde immer schwerer. Irgendwann konntest du nicht mehr und wolltest nicht mehr kämpfen. Du warst es so leid. Und ich kann dich besser als jeder andere verstehen, was du da durchmachen musstest.

Immer nur am weinen, am flehen und inneren Schreien. Du hast gelitten und hast doch die ganze Zeit geschwiegen. Keiner wusste so wirklich, wie es dir ging. Am liebsten wolltest du um Hilfe schreien. Aber es ging nicht. Du warst so verstummt, hattest keine Kraft und vielleicht auch keine Hoffnung auf Rettung.

In dieser Zeit sind diese dutzenden Gedichte entstanden. Um deine Stimme wiederzufinden. Und wenn deine Worte nicht über die Lippen kamen, dann wenigstens wolltest du ihnen so eine Form geben. Du legtest all deine Kraft und deine Gefühle in diese Worte. Als ich las, konnte ich nicht mehr damit aufhören. Ich habe jedes einzelne Wort aufgesaugt, habe gespürt, dass sie mich noch heute berühren. Sie haben mich spüren lassen, was ich früher einmal gefühlt und inzwischen schon fast wieder vergessen habe. Ich war erschüttert, aufgewühlt und konnte deine Verzweiflung, deine Trauer, deinen Schmerz, deine Ängste – all das konnte ich spüren, aber leider nicht so sehr, wie es sein sollte. Ich fühlte mich dir, meinem früheren Ich, wieder etwas näher. Und gleichzeitig doch so fern.

Ich ging innerlich auf Zeitreise, war auf der Suche nach dir und den Erinnerungen an diese dunkle Zeit. Aber es sind inzwischen so viele Jahre vergangen, so viel ist inzwischen passiert. Es kommt mir fast surreal vor, was damals gewesen ist. Obwohl ich dir näher kam, konnte ich das alles nicht mehr so wirklich fassen. Es schien wie ein Alptraum, den ich verdrängt und vergessen habe.

Vielleicht aus Angst, mich wieder so zu fühlen, wie du dich gefühlt hast? Aus Angst, weil ich damit vielleicht nicht klarkommen würde? Aus Angst, dass die Vergangenheit mich wieder einholt?

Fühlst dich du dich von mir verraten, weil ich weitergegangen bin? Weil ich nicht mehr zurückschauen wollte? Weil ich das alles hinter mir lassen wollte? Wenn es so ist: Verzeih. Ich wollte dir nicht wehtun. Glaub mir, der Abschied von dir, meinem alten Ich, fiel mir nicht leicht. Aber du musst verstehen, dass ich nicht mehr so weiterleben wollte und konnte.

Aber weißt du was: Ich habe dich ja gar nie wirklich losgelassen. Ich habe dich nie verlassen. Ich trage dich trotzdem immer in mir. Und manchmal bist du wieder da und es fühlt sich so vertraut und auch schmerzhaft an. Unsere Beziehung zueinander war nie leicht. Aber sie lässt sich nicht auslöschen. Das würde bedeuten, auch ein Teil von mir auszulöschen.

Jetzt fragst du dich sicherlich: Was willst du eigentlich von mir? Was willst du mir denn sagen?


Einfach nur „Danke“ sagen

Ich möchte dir danken, dass du das früher alles auf dich genommen hast. Ich bin so froh, dass du nach all dem Mist, den du erlebt hast, nicht aufgegeben hast. Ich will dir sagen: All das Leiden hat sich am Ende doch gelohnt. Es ist doch alles wieder besser geworden.

Danach hast du dich gesehnt. Du hast es dir so gewünscht: ein besseres Leben, endlich wieder glücklich sein. Du hast dich danach gesehnt, einen Menschen zu finden, der dich so liebt und akzeptiert, wie du bist. Mit diesem Menschen bist du jetzt verheiratet. Mit diesem Menschen möchtest du den Rest deines Lebens verbringen.

Du hast dich nach Freunden gesehnt. Jetzt bist du umgeben von Menschen, auf die du dich verlassen kannst, die für dich da sind. Du bist nicht mehr allein.

Du hast nach einem Platz in der Welt gesucht. Den hast du jetzt gefunden.

Und ganz wichtig: Die ganze Zeit wolltest du endlich etwas finden, wofür es sich zu leben lohnt. Diese Suche danach hat dich immer weiter vorangebracht, dich immer weiter kämpfen lassen. Du hast es immer vor Augen gehabt. Was ist der Sinn des Lebens? Und ich glaube, ich habe endlich die Antwort gefunden: Es ist das Leben selbst. Das Leben ist dazu da, gelebt zu werden. Es klingt so banal, so einfach. Aber es ist so wahr.

Ich habe etwas gefunden, was mein Leben lebenswert macht. Ich habe eine Bestimmung entdeckt: anderen Menschen zu helfen. Früher hatte ich niemanden, der mir helfen konnte. Am Ende war ich allein auf mich gestellt, habe mir selbst geholfen. Doch andere sollen das nicht auch durchmachen müssen, dachte ich mir. Weil ich genau weiß, wie es ist, hilflos und allein zu sein, will ich für andere Menschen da sein. Damit sie nicht dasselbe durchmachen müssen wie ich. Das versteht du, oder?

Ich bin heute so dankbar dafür, am Leben zu sein. Noch nie zuvor habe ich so viel Dankbarkeit gegenüber dem Leben verspürt. Ich liebe dieses Leben! Ich könnte es mir nicht mehr vorstellen, das Leben einfach so aufzugeben. Es gibt einfach zu viel, wofür es sich zu leben lohnt. Und ich bin so froh, dass ich diese zweite Chance bekommen habe. Dank dir.

Seitdem du dich fürs Leben entschieden hast, konnte ich so viel schönes erleben. Ich bin so vielen tollen Menschen begegnet, die ich in mein Herz geschlossen habe. Ich habe Dinge gefühlt, von denen ich nichts wusste. Ich habe Orte besucht, die für mich Neuland waren. Ich habe Dinge gemacht, die ich noch nie getan habe. Ich habe so viele Erlebnisse gesammelt, die mein Leben reicher gemacht haben. Es ist inzwischen zu viel, um es einfach so wieder wegzugeben. Ich bin dir so dankbar, mein altes Ich, dass du mich nicht aufgegeben hast. Dass du uns und dieses Leben nicht aufgegeben hast.


Den eigenen Weg gehen

Wenn ich jetzt wieder zurückreisen würde, dann würde ich dir das alles sagen wollen. Um dir noch mehr Kraft, Mut, Hoffnung zu geben. Vielleicht wäre damals nicht alles so schwer gewesen. Wenn du es damals gewusst hättest, wie schön das Leben ist, vielleicht wären dann einige Dinge anders gelaufen. Aber es bringt nichts, Reue zu verspüren. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Du bist damals deinen Weg gegangen, nicht alles war gut. Aber es war deine Art und Weise, mit dem Leben fertig zu werden. Du hast dein Bestes getan und dafür danke ich dir.

Vielleicht war das eben unser Weg. Vielleicht musste ich erst viel Schlimmes erleben, um das Schöne und Wunderbare zu erkennen und es mehr wertzuschätzen. Ohne das Leid wüsste ich nicht, was Glück ist. Nur wer einmal tief fällt, spürt es umso mehr, wenn er hochfliegt. Wenn es damals nicht so gewesen wäre, wer weiß, ob ich heute da wäre, wo ich bin? Ich glaube zwar nicht an das Schicksal, aber ich denke doch, dass vieles im Leben wie durch Zauberhand zusammenhängt, sich gegenseitig beeinflusst. Es muss einen Grund gegeben haben, dass ich diese Krise durchgemacht habe. Vielleicht, um daraus noch gestärkter hervorzugehen. Um das Leben eben jetzt in vollen Zügen genießen zu können.


In Liebe,

dein Zukunfts-Ich

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