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Heilt die Zeit wirklich alle Wunden?


Heilt die Zeit wirklich alle Wunden? Was ist an dem Sprichwort dran? Ich habe mich mal auf die Suche nach Antworten gemacht...


Die Zeit heilt alle Wunden“ – ich weiß gar nicht, wie oft ich diesen Satz schon mal gelesen oder gehört habe. So oft, dass er mir schon fast zu den Ohren raushängt. Ein Satz, der gern auch mal beiläufig rausgehauen wird, ohne, dass man wirklich über den Wahrheitsgehalt nachdenkt. Der Satz wird als allgemeingültig angenommen und immer wiederholt. Als ob die Zeit das Allheilmittel für jegliche Verletzungen wäre. Aber stimmt das denn wirklich?

Mag sein, dass fast alle physische Wunden durchaus mit der Zeit heilen. Der Körper hat seine eigenen Regenerationskräfte, schließt die Wunde. Übrig bleibt, je nachdem, wie tief die Wunde war, entweder gar nichts oder zumindest eine Narbe.

Doch der Spruch bezieht sich ja nicht wortwörtlich auf körperliche Verletzungen, auch wenn sein Ursprung darin liegt. Er kommt dann zum Einsatz, wenn es um seelische Schmerzen und Wunden geht. Anders als körperliche Wunden, die mal mehr oder weniger gut verheilen, ist das bei seelischen nicht anders. Doch die Zeit allein reicht nicht aus, um die seelischen Wunden zu heilen.


Schmerz, lass bitte nach!

Wann fällt der Satz „Die Zeit heilt alle Wunden“ eigentlich? Wenn jemand in einer Krise steckt. Oder wenn sich jemand ausheult, weil der Partner einen verlassen hat. Oder noch schlimmer: Ein wichtiger Mensch ist gestorben, einfach so gegangen und kommt nie wieder zurück. Der Satz soll dann mitfühlend verdeutlichen, dass der Schmerz nachlässt. Dass es mit der Zeit besser wird. Dass man mit der Zeit weniger unter den seelischen Verletzungen zu leiden kann. Mit der Zeit wird man besser mit dem Verlust zurechtkommen. Irgendwann wird die Trauer über eine verlorene Person verschwinden, das Leid wird weniger. Hoffnung für die Zukunft schwingt mit, es wird wieder bessere Zeiten geben. Doch es braucht alles Zeit. Mag sein, dass es so kommen wird. Aber es kann auch anders gehen.

Aber ganz ehrlich: Wer will in dem Moment der tiefsten Trauer so etwas hören? Ich weiß, dass es die Leute, die das sagen, nur gut meinen. Doch davon wird der Schmerz und die Trauer auch nicht weniger. Ganz im Gegenteil: Man bekommt das Gefühl, dass der Schmerz weggehen muss, dass man mit der Zeit weniger trauern soll. Und wenn das nicht der Fall ist, was dann? Hat man dann versagt? Ist man dann ein schwieriger Fall? Ist das dann unnormal, wenn ich nach Jahren immer noch unter dem Tod eines geliebten Menschen zu leiden habe?


Das wird schon wieder!“

Statt „die Zeit heilt alle Wunden“ zu sagen, geht auch dieser Satz: „Kopf hoch, das wird schon wieder!“ Und da hat man dieselbe Wirkung. Auch wenn diese Worte nur Hoffnung und Mut machen sollen. In solchen Momenten will die doch niemand hören, oder?

Ich will dann nicht hören, dass alles wieder gut wird. Weil es mir gerade nicht gut geht. Ich will nicht, dass der Schmerz nachlässt. Ich halte an dem Schmerz fest, weil er vielleicht alles ist, was mir bleibt. Es ist mein Schmerz und ich will nicht, dass mir irgendwer oder die Zeit den Schmerz nimmt. Als Außenstehender sagt es sich auch viel leichter, dass alles gut wird. Dass die Zeit es schon richten wird. Doch niemand kann in die Zukunft schauen. In dem Moment will ich nichts von Zukunft hören. Im Moment will ich mich dem Schmerz hingeben.

Den Satz als eine anerkannte Wahrheit zu sehen und zu vertreten, finde ich sehr fragwürdig. Zumal der Satz indirekt Druck macht, dass man sich mal zusammenreißen soll, so schlimm kann es doch nicht. Man muss einfach wieder positiv denken und dann wird alles wieder gut. Bloß wieder schnell die Tränen trocknen, sich zum Lächeln zwingen und dann ist die Welt wieder heile. Von außen Doch wie es tief in mir selbst aussieht, das interessiert keinen. Leute, die so etwas sagen, wollen sich doch eigentlich nicht mit Kummer und Leid anderer befassen. Die können es nicht ertragen, jemanden trauern und leiden zu sehen. Also weg damit! Wenigstens so tun, als ob man einigermaßen okay ist und wieder auf die Beine kommen.

Wenn ich darauf hoffe, dass die Zeit alle Wunden heilt, gebe ich die Verantwortung an die Zeit ab. Die Zeit wird schon dafür sorgen, dass es mir irgendwann wieder besser geht. Ich muss dafür nichts tun, ich bin ja nur ein armes Opfer, das jetzt den Schmerz einfach so ertragen muss. Solange, bis es irgendwann nicht mehr wehtut. Also einfach ein Pflaster draufgeklebt und gut ist. Doch dann kommen immer wieder Dinge oder Menschen, die einem gewaltsam das Pflaster abreißen. Oder man selbst berührt immer wieder diese Wunde, lässt ihr keine Zeit zum heilen. Immer dann, wenn man sich wieder in Selbstmitleid suhlt und sich als Opfer sieht.


Die Zeit heilt nicht alle Wunden

Die Zeit heilt nicht und alle Wunden schon mal gar nicht. Weil jede Wunde ganz unterschiedlich ist, unterschiedlich groß, unterschiedlich tief. Und vor allem auf die Tiefe kommt es an. Jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens immer wieder verletzt oder verletzt andere Menschen. Das geht nie spurlos an uns vorbei. Manchmal sind es nur kleine Kratzerchen, manchmal aber auch sehr tiefe Verletzungen. Manche Wunden heilen gut, manche schlechter, manche vielleicht gar nicht. Und selbst, wenn Wunden mal irgendwann verheilen sollten: Die Narben bleiben ein Leben lang, sie erinnern uns an den Schmerz, den wir damals empfunden haben. Der Schmerz begleitet uns doch ein Leben lang.

Keine Frage, Zeit kann helfen. Aber alle Wunden heilen, ganz bestimmt nicht. Die Zeit hilft, dass traurige Erlebnisse, Verluste, Verletzungen und Enttäuschungen zu Erinnerungen werden. Immer mehr verblassen. Doch manchmal lassen einen diese Dinge nicht los. Nur weil man ein Pflaster auf die Wunde gelegt hat, bedeutet es nicht, dass sie verheilt ist. Manchmal denken wir, dass es reicht, sie einfach zuzukleben, damit wir sie nicht mehr sehen. Was wir nicht sehen, existiert für uns nicht. Doch die Wunde ist immer noch da.


Die Verletzungen aus der Vergangenheit

Auch ich trage immer noch die Verletzungen meiner Kindheit und Jugend mit mir. Es geht mir heute viel besser, keine Frage. Und es gibt Zeiten, da fühlt es sich unwirklich an, was ich damals für Schmerz und Leid erfahren habe.

Ich denke nicht permanent an diese seelischen Verletzungen. Doch wenn wieder einer dieser Momente ist, in denen ich getriggert werde, merke ich: Die Verletzungen sind immer noch da. Klar, sie sind inzwischen bisschen besser verheilt. Von manchen sind tatsächlich nur noch Narben übrig, die mich an sie erinnern. Doch viele sind immer noch nicht komplett verheilt. Es braucht nur einen Moment und schon läuft wieder ein Film vor meinem inneren Auge ab. Und schon fühle ich mich wie das einsame, hilflose, kleine Mädchen von damals, das sich nie geliebt gefühlt hatte. Dann tut es wieder so weh wie damals.

Es sind die Verletzungen, die mir meine Eltern zugefügt haben. Vielleicht auch Glaubenssätze, die ich verinnerlicht habe, die mich unbewusst immer wieder triggern. Sie reißen die alten Wunden von damals immer wieder auf.


Pflaster drauf und schon ist wieder alles gut?

Die Zeit hilft uns dabei, unsere Wunden zu verdrängen, indem wir sie mit dem Pflaster verstecken. So lächeln wir den Schmerz weg, obwohl er immer noch da ist. Nur damit alle denken, uns geht es wieder gut, alles super. Doch sobald uns wieder etwas an den Schmerz erinnert, werden wir getriggert, das Pflaster wird abgerissen, die Wunde ist immer noch da. Und wir merken: Sie ist noch lange nicht verheilt.

Wir haben verlernt, den Schmerz wirklich zuzulassen. Wir wollen heute alle nur glücklich sein oder zumindest so aussehen, als wären wir es. Alle Welt soll denken, es ginge uns gut. Aber das ist alles nur Fassade. Jeder hat doch sein Päckchen zu tragen, jeder versteckt in seinem Inneren Verletzungen. Doch wir wollen uns nicht verletzlich zeigen, niemanden an uns ranlassen, niemanden in unser Herz sehen lassen. Da ist diese Angst, sich vor anderen verletzlich zu machen. Aber noch viel größer ist die Angst vor dem eigenen Schmerz. Und so laufen wir immer wieder davon, statt uns wirklich damit auseinanderzusetzen. In der Hoffnung, dass die Zeit schon irgendwie alle Wunden heilt. So sagen es doch immer alle.

Und dann wundern wir uns, wenn wir ständig neue Pflaster draufkleben, aber die Wunde nicht wirklich verheilt, immer nur halb oder noch weniger. Und dass der Schmerz dann immer wieder mit voller Kraft zurückkommt und uns in die Tiefe stürzt.


Wie Verletzungen wirklich heilen können

Viele sagen: Man sollte nicht immer gleich ein Pflaster auf eine Verletzung kleben. Denn dann heilt die Wunde nicht so gut. Und so ist es auch bei seelischen Verletzungen. Den Schmerz zu verdrängen und so tun, als ob alles gut wäre, hilft nicht, besser damit klarzukommen. Im Gegenteil: Es staut sich immer mehr Kummer an, der irgendwann auch mal raus gelassen werden will. Und dann kommt er umso heftiger.

Jeder braucht seine Zeit, um die Wunden zu schließen. Aber am Ende hängt es nicht davon ab, wie viel Zeit vergeht, sondern was wir mit der Zeit machen. Nicht die Zeit heilt unsere Wunden, wir sind dafür verantwortlich. Ohne unsere Mithilfe heilt gar nichts.

So wie eine Wunde Luft braucht, um zu heilen, so brauchen auch seelische Verletzungen Raum und Beachtung. Sie wollen gesehen, akzeptiert und ausgehalten werden. Sie wollen gepflegt werden. Auch wenn der Schmerz vielleicht anfangs noch sehr stark ist. Es wird nicht besser, wenn wir uns mit Arbeit, Alkohol, Drogen, Sex oder anderen Dingen betäuben. Damit lenken wir nur den Fokus vom Schmerz weg, der ja immer noch da ist.

Nur wenn wir genau hinsehen, den Schmerz akzeptieren, ihn aushalten und nicht verdrängen, können die Verletzungen auch wirklich heilen. Ich akzeptiere, dass es mir nicht gut geht. Ich muss mich nicht dazu zwingen, wieder gute Laune zu haben und zu lachen, wenn mir nicht danach ist. So ist es eben.

Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Die Zeit kann aber bei der Heilung unserer Wunden helfen. Doch sie schafft es nicht allein. Wir sind gefragt, wir sind für die Heilung unserer Verletzungen verantwortlich. Kein anderer, nicht mal die Zeit, kann das für uns übernehmen.

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