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Psychische Probleme: Brecht das Schweigen!


Über Krankheiten physischer Art zu sprechen, ist heutzutage schon normal geworden. Wer sich krank fühlt oder bemerkt, dass etwas am eigenen Körper nicht stimmt, geht zum Arzt. Doch bei psychischen Problemen sieht das ganz anders aus. Überhaupt darüber zu sprechen, fällt vielen von uns schwer – auch mir. Doch warum schweigen wir nur darüber, anstatt endlich mal offen darüber zu sprechen?

Es geht mir momentan sehr gut. Schon seit vielen Jahren. Aber das war nicht immer so. Es gab eine Zeit in meinem Leben, da fühlte ich mich komplett verloren, so kaputt. Jeder Tag erschien mir so belanglos. Einer wie der andere. Kein Tag machte einen Unterschied aus. Ich fühlte so eine unglaubliche Leere, die mich gleichzeitig so herunterzog, dass ich kaum noch imstande war, so etwas wie Glück zu empfinden. Hatte ich Depressionen? Wer weiß das schon? Ich war nie bei einem Arzt, Psychologen oder Therapeuten gewesen. Warum eigentlich nicht? Wieso konnte und wollte ich mir damals keine Hilfe suchen? Bis heute stelle ich mir diese Frage immer wieder.

Vielleicht, weil ich Angst davor hatte, mich jemandem zu öffnen. Diese Angst ist bis heute immer noch da. Angst, sich verletzlich zu machen. Angst, Schwäche zu zeigen. Angst, abgelehnt zu werden. Und vielleicht fällt es mir deswegen auch so schwer, heute über all die psychischen Macken zu sprechen, die ich viele Jahre mit mir herum getragen habe. Depressionen. Selbstverletzungen. Soziale Phobie. Suizidgedanken. All der ganze psychische Ballast, der mich während meiner Jugend permanent im Würgegriff hatte. Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, nur für einen kurzen Moment, triggert es mich hart. So hart, dass ich die Tränen nicht unterdrücken kann. Es ist wie ein Reflex, ich kann nichts dagegen tun.


Ich will darüber einfach nicht reden

Auch ein Grund, warum ich darüber so selten spreche. Und schon gar nicht mit Menschen, die ich nicht gut kenne. Das war im übrigen auch der Grund, warum ich diesen Text schreibe.

Vor etwa einem Monat wurde ich von einem Kollegen auf einen Schlüsselanhänger angesprochen, auf dem „Stille Helden“ steht. Das ist der Name meiner Selbsthilfegruppe für Soziale Phobie. Der Anhänger hängt an dem Schlüssel für unsere Räumlichkeiten, in denen wir uns wöchentlich treffen.

Soziale Phobie habe ich nicht mehr, nur noch in ganz leichten Zügen. Es ist inzwischen mehr nur eine Schüchternheit geworden, die ich sehr gut im Griff habe.

Und trotzdem brachte mich das total aus dem Konzept, als ich gefragt wurde, was es mit den „Stillen Helden“ auf sich hatte. Ich hätte einfach ganz selbstbewusst erklären können, was dahinter steckt: „Ach das ist nur der Name meiner Selbsthilfegruppe.“ Doch irgendetwas blockierte in mir total. Ich brachte es nicht über mich, meinen Kollegen von meiner Selbsthilfegruppe zu erzählen und schon gar nicht von meiner Sozialen Phobie. Denn das eine hätte ich ohne das andere gar nicht erwähnen können.

Stattdessen sagte ich so etwas wie: „Das ist der Name meiner geheimen Gruppe.“ Ich dachte, das das reichen würde. Aber natürlich weckte das umso mehr die Neugier meines Kollegen, der dann immer weiter rätselte und bohrte. Mir wurde das dann irgendwann zu viel, es war für mich einfach ein Eingriff in meine Privatsphäre. Wenn ich darüber nicht reden will, dann will ich das auch nicht. Ich fand es höchst taktlos, da weiter nachzubohren, obwohl offensichtlich war, dass ich darüber einfach nicht reden will.

Das ist schon ein Problem an sich. Menschen, die einfach Grenzen überschreiten. Die ein Nein nicht akzeptieren. Die sich anderen Menschen aufdrängen, nur daran denken, ihre Neugier zu stillen. Klingt vielleicht etwas hart. Der Kollege meinte es sicherlich nicht böse, das weiß ich. Er war einfach nur neugierig. Und ich hätte ja auch eindeutig und klar sagen können: „Ich will darüber nicht reden.“ Stattdessen habe ich vor mich hingedruckst und versucht abzulenken. Ich habe nur so etwas gesagt wie: „Das verrate ich nicht.“ Das hätte er ja auch als ein indirektes Nein verstehen können. Entweder ist der Kollege einfach nicht empathisch genug, weil vielleicht Autist?, oder er hat es gekonnt ignoriert, obwohl er es gemerkt hat. Egal. Ich bin leider auch auf seine Rateversuche eingegangen, was ich auch einfach hätte lassen können. Aber ich war zu nett, habe nicht klar genug die Grenze gezogen. Und musste deswegen mit seinen nervigen Fragen leben.

Es ist nicht so, dass ich den Schlüsselanhänger selbst gerne dabei habe. Er war ein selbst gebasteltes Geschenk eines Mitglieds aus der Gruppe. Seitdem hängt der Anhänger eben am Schlüsselbund. Nicht weil ich gerne zur Schau stelle, dass ich zu den „Stillen Helden“ gehöre. Es war bisher auch nie ein Problem, weil es nie jemandem aufgefallen ist und ich nicht darauf angesprochen wurde.


Was hinter dem großen Schweigen steckt

Das war nur eine ganz harmlose Situation gewesen. Mit großer Nachwirkung. Ich begann mich zu fragen, warum ich nicht einfach die Wahrheit sagen konnte. Mir war klar, dass ich nicht jedem Menschen und schon gar nicht Kollegen von meinen psychischen Problemen erzählen will. Aber da war noch etwas anderes: Ich wollte nicht zugeben, dass ich Mitglied einer Selbsthilfegruppe bin. Das Wort selbst löst ja allein schon bei vielen Assoziationen aus, man wird gleich in eine Schublade gesteckt: Das ist doch eine Irre, die tickt vielleicht einfach nicht richtig, sonst wäre die doch nicht in einer Selbsthilfegruppe.

Dabei ist es überhaupt nicht schlimm, in einer Selbsthilfegruppe zu sein. Im Gegenteil: Das ist doch vom Prinzip her ähnlich wie wenn ich zum Arzt gehen würde. Da suche ich mir doch auch Hilfe, wenn es mir körperlich nicht gut geht. Und wenn es mir psychisch nicht gut geht, dann kann ich eine Selbsthilfegruppe aufsuchen. Und das ist noch ein Ticken schwerer, weil ich dort Hilfe zur Selbsthilfe suche. Die Menschen in der Gruppe sind füreinander da, damit sie sich selbst helfen können.

Und ja, zuzugeben, Teil einer Selbsthilfegruppe zu sein, hätte bedeutet, mich zu outen. Mich zu outen, dass ich nicht „normal“ wie alle anderen bin (was ist schon normal?). Denn ich habe und hatte psychische Probleme. Und dazu zu stehen und normal darüber zu reden – das fällt mir bis heute noch schwer. Zu groß ist die Angst vor Stigmatisierung. Und so geht es ja leider noch vielen unter uns, die mit psychischen Erkrankungen zu tun haben.

Es ist so seltsam. Wenn es uns körperlich nicht gut geht, sprechen wir darüber, wir gehen zum Arzt und lassen uns behandeln. Doch bei psychischen Krankheiten ist das alles andere als einfach. Darüber zu reden, fällt allein schon vielen total schwer. Und sich überhaupt Hilfe zu suchen, noch viel mehr. Dabei ist es doch nichts anderes. Und doch scheinen die Hürden, das Schweigen zu brechen und sich Hilfe zu suchen so viel höher zu sein.


Stigmatisierung psychischer Erkrankungen

Woran liegt das? Weil psychische Erkrankungen noch heute einfach tabuisiert werden. Sie werden stigmatisiert. Menschen mit psychischen Problemen werden oftmals von der Gesellschaft ausgegrenzt. Menschen mit körperlichen Beschwerden dagegen bekommen Mitleid, werden normaler behandelt. Jeder hat mal körperliche Probleme. Aber psychische Probleme – das ist doch nicht normal!

Dabei haben es die psychisch Kranken noch viel schwerer. Sie leiden unter ihrer Krankheit, viele haben auch mehrere. Und sie leiden darunter, weil sie damit allein sind. Sie bleiben für sich, versuchen allein klar zu kommen, anstatt sich Hilfe zu suchen. So wie ich damals. Vielleicht weil sie Angst vor Ablehnung haben oder sie sich das einfach nicht eingestehen wollen. Und wenn sie sich outen, kann es sein, dass sich Mitmenschen von ihnen abwenden. Und damit leiden sie doppelt. Aus Scham und Angst vor Ablehnung scheuen sie Therapien, die ihnen helfen könnten. Die Folge: Die Erkrankungen werden schlimmer, vielleicht sogar chronisch, Chancen auf Heilung schwinden. Und es geht ihnen damit schlechter und schlechter.

Stigmatisierung kann zu einer „zweiten Krankheit“ werden. Denn diese verhindert, dass überhaupt Krankheiten diagnostiziert werden. Wenn Betroffene vermuten, dass sie unter einer psychischen Krankheit leiden, scheuen sie sich, zum Therapeuten zu gehen. Aus Angst, weil sie sonst eben mit Ablehnung zu kämpfen haben. Darum bleiben viele Krankheiten unentdeckt und damit fällt auch jede Chance auf Besserung weg, weil auf eine Therapie verzichtet wird.

Wir Menschen haben generell Angst davor, krank zu werden. Doch während „körperlich krank“ irgendwie schon normal erscheint und jeder mal physische Beschwerden hatte, ist das bei psychischen anders. Die Diagnose „psychisch krank“ zu bekommen, ist für viele ein Graus. Sie wollen das um jeden Preis verhindern, nur um eben nicht ausgeschlossen zu werden. Auch wenn das bedeutet, ewig darunter zu leiden.


Noch nicht dazu bereit

Und ich glaube, dass es auch das ist, was mich am Reden hinderte. Ich wollte nicht stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Wollte in den Augen meines Kollegen nicht als Psycho dastehen. Wieder nur ein negativer Glaubenssatz, den ich jahrelang irgendwie verinnerlicht habe. Alles andere als gesund. Sich als Psycho zu sehen, wertet mich selbst ab. Dabei weiß ich ganz genau, dass ich kein Psycho bin. Ich habe es ohnehin schon schwer genug, mich zu integrieren, weil ich durch meine Schüchternheit sowieso schon auffalle und nicht richtig dazu passe. Hätte ich dann noch die Selbsthilfegruppe erwähnt, wäre es noch schlimmer geworden.

Wenn ich die Selbsthilfegruppe erwähnt hätte, wäre das Fragespiel weitergegangen. „Was für eine Selbsthilfegruppe?“ „Warum bist du dort?“ „Seit wann?“ Alles total verständliche Fragen, die mir aber zu weit gegangen wären. Ich wollte einfach nicht darüber reden. Je mehr ich davon erzählt hätte, desto mehr hätte ich mich öffnen müssen. Und das wollte ich auf keinen Fall. Es mag Menschen geben, die offen mit jedem darüber sprechen können. Ich bewundere diese Menschen sehr für ihren Mut. Aber ich bin nicht so ein Mensch. Es ist nach wie vor etwas total Intimes für mich, was ich bisher nur wenigen Menschen anvertraut habe.

Klar, könnte ich mal mutig sein und offen darüber sprechen. Darüber sprechen, dass ich hart an mir gearbeitet habe, damit ich das besser in den Griff bekomme. Ich könnte meine Erfolgsgeschichte lang und breit erzählen. Das wäre etwas gewesen, wofür ich vielleicht sogar Bewunderung bekommen hätte. Und ja, vielleicht würden meine Mitmenschen mich dann besser verstehen können, warum ich so bin wie ich eben bin. Und mich mit anderen Augen sehen. Aber ich mag es nicht, mich selbst so sehr in den Vordergrund zu stellen. Vielleicht werde ich das irgendwann mal tun. Aber jetzt fühle ich mich einfach nicht bereit dafür.


Das Schweigen brechen

Es ärgert mich, dass ich diese innere Blockade habe und dass ich Angst vor einer Stigmatisierung habe. Es macht mich wütend, dass es diese immer noch gibt, obwohl unsere Gesellschaft doch so angeblich offen und tolerant ist. Und trotzdem gibt es immer noch so viel Ungerechtigkeit, Unverständnis und Intoleranz. Ich möchte nicht mehr länger darüber schweigen. Ich möchte irgendwann in der Lage sein, offen darüber sprechen zu können, dass ich Soziale Phobie und Teil einer Selbsthilfegruppe bin. Ich will darüber reden und auch weinen dürfen, wenn mir danach ist. Ohne, dass ich Angst vor Ausgrenzung haben muss. Ohne, dass Menschen mich dafür verurteilen. Aber ich möchte auch selbst darüber entscheiden, wem ich davon erzähle und wie viel ich davon preisgebe, ohne, dass ich gedrängt werden.

Ich will das Schweigen über meine psychischen Probleme brechen. Weil sie auch ein Teil von mir selbst sind. Sie zu verleugnen, würde auch bedeuten, ein Teil von mir Selbst zu verdrängen. Diese ganzen psychischen Probleme haben mich geprägt, mich zu dem Menschen gemacht, der ich jetzt bin. Auch wenn ich viel Negatives damit verbinde, sie gehören zu mir und lassen sich nicht auslöschen. Ich will lernen, ihnen mit Wohlwollen und Akzeptanz zu begegnen, sie aufzunehmen und nicht mehr weiter zu verdrängen.

Darum schreibe ich auch darüber, darum bin ich auch bei der Selbsthilfegruppe. Darum setze ich mich dafür ein, dass wir offener und toleranter gegenüber psychischen Krankheiten werden. Lasst uns die Vorurteile und Bilder, die wir über psychische Krankheiten haben, hinterfragen und uns ein eigenes Bild davon machen. Mit Menschen, die die psychischen Krankheiten haben, sprechen. Ihnen offen begegnen und ihnen aufmerksam zuhören, sie verstehen lernen. Dann wird hoffentlich auch irgendwann einmal kein Schweigen mehr darüber nötig sein.

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