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Gefangen in den eigenen Interpretationen


Wir sind schnell darin, Urteile über andere und deren Verhalten zu treffen. Und genauso schnell sind wir auch darin, das Verhalten anderer zu interpretieren. Doch oftmals liegen wir damit falsch und schaden uns dabei selbst.


Eine Freundin hat meinen Geburtstag vergessen. Der Kollege war heute irgendwie ziemlich schlecht gelaunt und hat das an mir ausgelassen. Der Partner hat spontan sein Wochenende umgeplant und will lieber was mit Freund*innen machen als mit mir. Obwohl wir etwas zusammen machen wollten.

Es gibt unzählige zwischenmenschliche Situationen, in denen sich andere Menschen nicht so verhalten, wie wir es gern hätten. Und was folgt daraus? Jede Menge Frust, Enttäuschung und Streit. Die Ursache liegt nicht beim Verhalten der anderen, sondern darin, wie wir eine Situation interpretieren.

Es sind die eigenen Worte in meinem Kopf, meine Annahmen und nicht das Verhalten des Partners, was weh tut. Oder anders gesagt: Ich bin beleidigt und verletzt wegen meiner eigenen Gedanken. Klingt total absurd, aber kommt leider viel zu oft vor.

Was bedeutet das? Dass wir uns mit eigenen Interpretationen, Erwartungen und Urteilen auch unglücklich machen.


Missverständnisse beim Chatten

Bestes Beispiel ist die Kommunikation über Messenger. Da sind Missverständnisse einfach schon vorprogrammiert, weil viele Dinge wie Gestik, Mimik, Körpersprache, Intonation, Stimme und mehr einfach nicht da sind. Es fehlen jede Menge Informationen, die man sich sozusagen dazu denken muss. Und da kann es schnell passieren, dass man in irrsinnige Interpretationen verfällt. Dann fehlt das Emoji mal hier, da hat er zu wenig Herzchen dort geschrieben, dann schreibt er nicht, obwohl er die Nachricht gesehen hat, oder antwortet nicht schnell genug. Oder nicht so, wie ich es gern hätte.

Und schon läuft das Gedankenkarussell auf Hochtouren. Und dann geht es los mit den ganzen Interpretationen, die dem Partner unterstellen, dass er es nur böse gemeint haben haben. Dass ich nicht wichtig genug bin, dass er mich nicht liebt und ich es nicht wert bin.

Für mich ist das noch so eine große Baustelle und das schon seit Jahren. Ich bin schnell darin, irgendeine Bedeutung, die nicht stimmt, in Verhalten oder auch fehlendes Verhalten hineinzuinterpretieren. Das ist eigentlich allzu menschlich.

Denn wir wollen einfach Sinn finden, wir wollen verstehen und vor allem auch die Menschen, die uns am Herzen liegen. Wir wollen verstehen, warum sie sich so verhalten und nicht anders. Es liegt in unserer Natur, Bedeutung in allem zu finden, was außerhalb liegt. Und wenn es uns Informationen fehlen, passiert es automatisch, dass das Gehirn sich die fehlenden Informationen selbst zusammensucht und das Ganze zusammenfügt.

Nur, dass es eben nicht immer richtig ist, was dabei rauskommt. Es kommen Denkweisen und Annahmen zustande, die uns schaden können. Wir halten an diesen Interpretationen fest, unfähig, uns davon mal zu lösen. Und das ist das Problem. Im Eifer des Gefechts und wenn damit auch noch Gefühle aufkommen und Bedürfnisse nicht erfüllt werden, dann fällt es uns umso schwerer Abstand von unseren Interpretationen zu nehmen.

Und warum? Weil wir einfach eindeutige Antworten lieben, wir wollen Erklärungen haben, seien sie noch so weit von der Realität entfernt. Hat man sich einmal auf eine Interpretation versteift, ist es sehr schwer, davon noch loszukommen. Oder das gar auch zu hinterfragen. Natürlich könnte es auch anders sein. Aber das ist doch sehr unwahrscheinlich. Und so klammern wir uns weiter an Interpretationen, die uns verletzen und auch für Ärger in Beziehungen sorgen.

Das Problem ist, wenn die eigenen Gedanken nicht hinterfragt werden, sondern als Wirklichkeit angenommen werden. Wir sind so sicher, dass unsere Annahmen stimmen, dass wir nicht wagen, sie zu bezweifeln. Als ob wir wüssten, was unser Gegenüber denkt und warum er gerade das getan hat. Wir meinen, wir wären so viel schlauer, weil wir genau wüssten, was hinter einem Verhalten steckt und was eigentlich gemeint ist.


Die Macht der Gedanken als Spiegel eigener Unsicherheiten

Das Tückische: Diese eigenen negativen nicht mal auf Wahrheit beruhenden Gedanken haben eine große Wirkung auf uns: Unsere Gedanken verändern, wie wir uns fühlen und wie wir uns dem anderen gegenüber verhalten. Und das nicht zum positiven.

Die eigenen Interpretationen haben meist nichts mit dem eigentlichen Verhalten des anderen zu tun. Sie sind vielmehr der Spiegel eigener Unsicherheiten und Ängste.

Ich habe das auch oft erlebt. Ich gehe meist davon aus, dass mein Gegenüber „böswillig“ ist, er meint es niemals gut und es kommt nicht vor, dass er mal etwas vergessen hat oder nicht richtig nachgedacht hat. Nein, er meint es einfach nicht gut. Ich gehe immer von einem eher schlechten Willen aus, greife innerlich mein Gegenüber an, unterstelle ihm, dies und jenes getan zu haben, um mich irgendwie zu verletzen.

Doch indem ich den anderen angreife, greife ich eigentlich mich an, verletze mich selbst. Was sagt das über mich aus, wenn ich vor allem in Beziehungen davon ausgehe, dass der andere sich so verhält, weil er mich nicht liebt? Dann sagt das eher etwas über mich aus. Nämlich, dass ich mich selbst nicht genug liebe und mir nicht vertraue. Und das auf meinen Partner übertrage.


Ich kann bestimmen, wie ich etwas interpretiere

Diese Interpretationen gehören zu mir. Ich mag das Verhalten anderer Menschen nicht verändern. Doch ich habe es in der Hand, wie ich auf andere reagiere, wie ich das Verhalten anderer interpretiere.

Das Problem ist, dass ich mich selbst einfach immer nur zu sehr in den Mittelpunkt im Leben des anderen stelle. Alles beziehe ich auf mich, es muss etwas mit mir zu tun haben. Aber das ist meist nicht so. Denn seien wir ehrlich: Die meisten sind doch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, jeder lebt in seiner eigenen Bubble. Und deswegen hat es meist auch nichts mit Bösartigkeit oder fehlender Liebe zu tun, wenn ein kleines Detail nicht so ist wie ich es gern hätte.

Eigentlich weiß ich es schon: Nicht die Dinge sind es, die uns schlechte Gefühle auslösen, sondern wie wir die Dinge sehen. Und trotzdem erliege ich immer wieder diesem Irrtum, dass an meiner übertriebenen Interpretation was dran sein muss. Kann schon mal sein, aber in den meisten Fällen ist es dann nicht so.

Ich entscheide, wie ich eine Situation und das Verhalten anderer auffasse. Statt krampfhaft nach Dingen zu suchen, die meine Interpretation bestätigen, mich daran festzuklammern, könnte ich auch einfach loslassen.


Mehr Gelassenheit und weniger Klammern

Es ist meine Entscheidung, das Verhalten anderer nicht mehr so persönlich zu nehmen.

Warum also entscheide ich mich nicht dazu, eine wohlwollende und empathische Haltung einzunehmen? Wahrscheinlich hat es mit fehlender Selbstliebe zu tun, weil ich mir gegenüber nicht wohlwollend und empathisch bin und eben das bei anderen Suche. Und wenn ich glaube, es nicht zu finden, dann verkehrt sich alles. Dann übertrage ich meinen Umgang mit mir selbst auf andere.

Und da kann ich ansetzen: Ich kann lernen, mehr Vertrauen in mich selbst zu entwickeln, mir empathischer zu begegnen. Und nicht immer nach Bestätigung und Liebe bei anderen zu suchen. Nicht jedes kleine Detail, jedes fehlende Worte oder Verhalten spiegelt wieder, wie der andere zu mir steht und für mich empfindet. Kleinigkeiten einfach auch mal Kleinigkeiten lassen.

Vielleicht täte mir einfach mehr Gelassenheit gut. Ich glaube, dass es mir damit besser gehen würde, wenn ich nicht bei jeder Kleinigkeit auf 180 bin. Nicht mehr so viel in Details hineininterpretieren, nicht mehr alles so überanalysiere, nicht mehr alles so bewerte und auf mich beziehe.

Ich kann andere nicht ändern, aber mich selbst. Meine Interpretationen fußen insgeheim auf dem Glaubenssatz: Der andere soll mich glücklich machen. Darum sollte er sich so verhalten, wie ich es von ihm erwarte und es mir wünsche. Aber der andere ist nicht für mich und mein Glück verantwortlich. Ich hole mir die Verantwortung wieder zurück, da, wo sie eigentlich hingehört.

Sich in Interpretationen zu verlieren löst Ohnmacht in mir aus. Ich fühle mich gefangen und wie ein Opfer, was sich dagegen nicht wehren kann. Aber die Wahrheit ist: Ich habe es in der Hand, ich kann für mich Verantwortung übernehmen, mich aus der Ohnmacht befreien, die Kontrolle über meine Gedanken wieder zu erlangen. Ich will nicht mehr länger Gefangene sein, ich will frei sein und selbst bestimmen.


Abstand zu den eigenen Annahmen und prüfen

Was dazu gehört? Dass ich meine eigenen Annahmen und Urteile nicht mehr unreflektiert annehme, sondern sie wirklich prüfe und schaue: Tun sie mir gut oder schaden sie mir mehr?

Weniger interpretieren, lieber öfter nachfragen. Wie oft lag ich mit meinen Annahmen doch falsch? Es hat nicht immer etwas mit mir zu tun und auch nicht mit einem bösen Willen. Statt in meiner Gedankenwelt zu verharren, könnte ich mich davon distanzieren und einen Schritt auf meinen Partner zugehen. Nicht länger Distanz suchen, sondern Kontakt, den Austausch anstreben. Und meine Annahmen prüfen: Stimmt das, was ich denke oder liege ich falsch? Was hast du eigentlich damit gemeint? Wieso hast du das gesagt oder geschrieben? Wieso hast du das gemacht.

Bei Kommunikation geht es auch um Verständnis und Empathie für den anderen zu entwickeln. Das passiert nicht, indem ich irgendetwas hineininterpretiere, was da vielleicht nicht ist. Denn das sind nur meine Annahmen, die nicht richtig sein müssen und zwischen uns stehen. Niemand kann wirklich Gedanken lesen. Wieso maße ich mir an, das selbst zu können? Und wie so oft passt da der Spruch sehr gut dazu: Man sollte nicht von sich auf andere schließen. Denn er der andere ist ja nicht so wie.

Und damit einher geht auch, dass ich mir auch mal selbst an die Nase fasse. Denn ich bin ja auch nicht perfekt. Vielleicht erinnere ich mich auch mal an Missverständnisse, in denen andere mir Dinge vorwarfen, die nicht stimmten. Wie ging es mir dabei? Was waren meine Gründe für Vergesslichkeit oder Verhalten, was irgendwie falsch ankam?


Trennung von Gedanken und Verhalten – mehr wahrnehmen und beobachten

Sich das interpretieren zu verbieten, wird definitiv nicht gelingen. Es geht nicht um Entweder oder, sondern darum, einfach eine gesunde Balance zu schaffen. Eigene Annahmen nicht einfach so zu akzeptieren, sondern achtsam wahrzunehmen, was wirklich ist. Eine Trennung zwischen eigenen Gedanken und der Realität zu schaffen. Einen Moment einfach innezuhalten, alle Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, ohne dem ersten Impuls zu folgen und zu handeln.

Oftmals meinen wir, wir hätten nicht anders gekonnt. Aber wir haben immer eine Wahl. Zwischen den Gedanken und Gefühlen und der eigentlichen Reaktion nach außen gibt es einen Moment, in dem wir sowohl umschalten können. Aber dazu braucht es das Innehalten, das Stoppen, das Hinterfragen und Abwägen. Ist das, was ich denke, wirklich so? Und sollte ich wirklich gleich den anderen wütend anpampen oder nicht lieber erstmal in mich gehen und zur Ruhe kommen? Und eine andere Perspektive einnehmen?

Abstand nehmen von den eigenen Interpretationen und dem Drama, was sich in mir abspielt. Die Gedanken und Gefühle wertungsfrei stehen lassen und sie untersuchen. Warum denke ich gerade so? Was löst das Wort oder das Verhalten in mir aus? Woher kommen diese Gefühle und Annahmen? Gibt es auch andere Interpretationen, die weniger wehtun?

Zur Ruhe kommen, entspannen, loslassen. Dann werden die Gefühle, die mehr Raum bekommen, sich auch von alleine beruhigen und wieder davon ziehen.

Welche Informationen habe ich und welche fehlen mir, um meine Annahmen auf Wahrheit zu prüfen? Vielleicht sollte ich besser nachfragen, bevor ich vorschnell reagiere.

Fragen statt analysieren, beobachten statt bewerten.

Indem ich Abstand von meinen Gefühlen und Gedanken nehme, gewinne ich auch wieder die Kontrolle. Ich gewinne Abstand und auch Sicherheit. Ich werden nicht von meinen Gefühlen überrumpelt und kontrolliert, ich kann sie annehmen, aber auch wieder loslassen.

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