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Ich darf mich verletzlich zeigen

Keine Schwäche zeigen, Pokerface bewahren, bloß nicht einknicken. Bloß nicht die Maske fallen lassen und hinter die Fassade schauen lassen. Denn wir wollen stark sein, nichts kann uns kaputt machen. So muss es doch sein, so kommt man am besten durchs Leben. Man schützt sich vor Verletzung, Ablehnung und Enttäuschung. Eigentlich gut, oder? Aber am Ende macht es uns einsamer denn je.

 Es fiel mir lange Zeit schwer, mich anderen anzuvertrauen. Hilfe zu suchen und dann auch Hilfe anzunehmen. Vielleicht weil ich mir all die Jahre wie ein Mantra eingeredet habe: Du bist stark. Du schaffst das allein. Du brauchst niemanden. All die Jahre der Kindheit und Jugend habe ich Probleme, überwältigende schlechte Erfahrungen und all den Schmerz nur mit mir ausgemacht.

Wollte mich nie verletzlich sein, nie anderen offenbaren, wie es mir wirklich geht. Und auch heute ist das immer so. Immer ein Lächeln aufsetzen, auch wenn mir zum heulen zu mute ist. All die Jahre war es die soziale Phobie, die mich eine Mauer zwischen meine Mitmenschen errichten ließ. Bloß niemanden zu nah ranlassen. Obwohl ich das schon gern wollte. Ich sehnte mich ja nach echten Verbindungen. Tiefen Verbindungen, die unter die Haut gehen. Menschen, denen ich komplett vertrauen kann. Aber da war immer die Angst da, sich so zu zeigen, wie ich wirklich bin.

Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Eine Maske tragen, die mich vor Verletzungen schützt, davor schützt, Fehler zu machen, die mich verletzlich machen.

Die Phobie war im Endeffekt eine Art Selbstschutzmechanismus. Indem ich mich anderen entzog, mich verstellte und so wenig wie möglich von mir preisgab, konnte ich mich vor Verletzungen jeglicher Art schützen. Glaubte ich zumindest.

Aber was passiert, wenn man sein Herz verschließt und niemanden an sich heranlässt? Man wird einsam, ist verbittert und vertraut anderen umso weniger. Es fehlen diese tiefen Verbindungen, die mich noch einsamer werden lassen als ich es ohnehin schon gewesen war.

Das ist mit den Jahren besser geworden. Ich habe gelernt, mich für andere zu öffnen. Um endlich die Verbindungen zu finden, nach denen ich mich gesehnt habe. Je mehr ich von mir preisgab, desto näher brachte mich das zu anderen Menschen.

Die Ängste hinter der Verletzlichkeit

Warum fällt es uns nur so schwer, uns zu zeigen wie wir sind, uns verletzlich zu machen? Niemand möchte das Risiko eingehen. Sich verletzlich zu zeigen bedeutet ja immer auch, dass man abgelehnt, enttäuscht und gekränkt werden kann. Es kann bedeuten, dass wir die Kontrolle verlieren, angreifbar und verwundbar werden.

Ich habe mich davor gefürchtet, dass mich andere für das, was ich bin, ablehnen. Hatte Angst, Fehler zu machen und noch mehr abgelehnt zu werden. Für das, was ich bin, nicht geliebt zu werden. Also schwieg ich und mein Herz verstummte ebenso.

Vielen, vor allem Männern, fällt es schwer, sich verletzlich zu zeigen, weil das nicht zu ihnen oder ihrem Rollenbild passt. Verletzlichkeit und Gefühle zu zeigen – das ist ein Zeichen von Schwäche, fehlender Charakterstärke. Das ist nicht gut.

Gefühle zu zeigen, bedeutet auch, sich verletzlich zu machen. Generell wird es nicht gern gesehen, wenn wir weinen und trauern. Zumindest in bestimmten Kontexten wird es nicht gern gesehen. Man muss doch eine gewisse Professionalität bewahren. Plötzlich anzufangen zu weinen, das wird mit fehlender Gefühlskontrolle verbunden. Kann also auch nicht gut sein.

Wenn ich in der Schule geweint habe oder auch vor Freund*innen habe ich mich geschämt. Es war mir sehr unangenehm, Gefühle so zu zeigen. Aber warum das? Als Kind ist es noch das selbstverständlichste auf der Welt, wenn man weint, weil man traurig ist oder sich verletzt hat, wenn man laut schreit und wütend wird, wenn einem etwas nicht passt. Wann haben wir verlernt, die Verbindungen zu unseren Gefühlen zu suchen und sie auszudrücken?

Warum haben wir den Zugang zu unseren Gefühlen verloren?

Seit wann verbinden wir Gefühle zeigen mit Schwäche? Mit etwas, was man möglichst vermeiden sollte?

Weil die Leute immer kamen und schnell versucht haben, zu trösten. Damit man bloß nicht zu viel weint. Am besten gar nicht mehr weint. Das ist doch so. Wenn man als Kind weinte, kam bestimmt mal der Spruch „Jetzt hör doch auf zu weinen.“ Weinen und überhaupt Gefühle zu zeigen, wurde als nicht gern gesehen verinnerlicht. Etwas, was man am besten nur für sich oder im engsten Kreis macht.

Ich habe angefangen, nur zu weinen, wenn ich allein war. Meine Gefühle nur dann auszudrücken, wenn keiner hinsieht oder da ist. Darum fällt es mir umso schwerer, auch vor anderen zu weinen. Der Fokus liegt dann so sehr auf mir und es ist einfach unangenehm. Beschämend, sich so zu zeigen.

Dabei ist es doch das normalste auf der Welt. Wir alle sind Menschen mit Gefühlen. Warum sollten wir sie für uns behalten? Es gibt immer einen guten Grund, warum wir so fühlen, wie wir fühlen. Warum gehen wir diesen Gefühlen nicht nach und lassen sie einfach raus?

Stattdessen lernen wir, Gefühle zu unterdrücken und zu verdrängen, betäuben uns damit selbst, verlernen, tief zu empfinden.

Dabei wollen Gefühle gefühlt werden, sie wollen uns etwas sagen. Und sehr oft, ist es so befreiend, wenn wir unseren Gefühlen freien Lauf lassen. Wenn wir die Tränen einfach rollen lassen und getröstet werden.

Immer cool sein, keine Schwäche zeigen

Ich habe das Gefühl, dass wir sehr darauf achten, richtig cool zu wirken. Sich authentisch und verletzlich zu zeigen, scheint gerade nicht gut anzukommen.

Das ganze Datinggame ist davon geprägt. Man spielt mit Dates Spielchen. Obwohl man ja eigentlich doch Gefühle füreinander hat, tut man richtig „cool“ und „distanziert“. Man will den anderen so gern sehen und ihm eigentlich zeigen, wie sehr man denjenigen mag. Doch statt dies zu tun, hält man den anderen doch lieber auf Abstand. Zu groß ist die Angst, man könnte damit ja verletzt werden.

Obwohl man zu gern wüsste, was man für den anderen ist, lässt man das offen. Man traut sich nicht zu fragen, zu groß ist die Angst vor Verletzung und Ablehnung. Dann doch lieber weiter so tun als ob es einem egal wäre oder man damit zufrieden wäre, obwohl das gar nicht stimmt.

In Liebesbeziehungen setzt sich das teilweise fort. Mir fällt es schwer, meinem Freund „Ich liebe dich“ zu sagen. Es ist auch jedes Mal mit ein wenig Scham verbunden. Denn wenn ich das sage, dann fühle ich das und lasse es meinen Partner wissen. Er bekommt einen Einblick in meine Gefühlswelt. Damit mache ich mich verletzlich. Es besteht immer die Gefahr, dass die Gefühle nicht erwidert werden. Ich weiß, dass es Unsinn ist. Ich weiß ja, dass mein Freund mich liebt. Und so geht es vielleicht auch anderen Menschen, die einem wichtigen Menschen ihre Gefühle mitteilen oder auch nicht, aus Angst vor Ablehnung und Verletzungen.


Probleme, sich zu outen

Es fällt schwer, sich verletzlich zu zeigen. Besonders wenn es auch um Probleme oder psychische Beschwerden geht. Da ist nach wie vor eine offene Kommunikation für viele schwierig. Weil das noch immer mit einem Stigma behaftet ist. Weil man Angst davor hat, dafür abgelehnt zu werden. Obwohl man mehr ist als eine psychische Krankheit.

Ich kann nicht mal allen Freund*innen von meiner schweren Vergangenheit erzählen oder von meinen Ängsten. Das geht tatsächlich nur bei wenigen. Und schon gar nicht kann ich mit Bekannten offen darüber sprechen.

Ich darf auch schwach sein

Menschen tun so, als wären sie stark. Aber eigentlich sind sie es nicht. Es würde so vielen gut tun, wenn sie diesen Glaubenssatz „Ich muss immer stark sein“ loslassen würden. Und sich stattdessen sagen würden: Ich kann stark sein, aber ich darf auch schwach sein. Sich das selbst erlauben und es nicht unbedingt als Schwäche oder Makel betrachten. Nein, es ist grundsätzlich menschlich und total okay, sich auch mal schwach zu fühlen. Dinge nicht hinzubekommen. Irgendwo nicht weiterzukommen. Sich anderen anzuvertrauen, andere nach Hilfe fragen. Gestehen, dass es einem nicht gut geht und man jemanden braucht, der für einen da ist.

Das kostet sehr viel Mut und Überwindung und gleichzeitig innere Stärke. Nur wer sich seiner Schwächen bewusst ist und sie annimmt, kann auch wirklich stark sein und werden.

Verletzlichkeit als wahre Stärke

Und darum ist Verletzlichkeit die eigentliche innere Stärke. Die Fähigkeit, sich trotz aller Ängste anderen zu öffnen und eigene Schwächen zuzugeben und zu zeigen.

Verletzlichkeit ist der Schlüssel für mehr Vertrauen und engere Beziehungen. Das habe ich inzwischen gelernt und verinnerlicht. Als ich mich 2022 getrennt und einigen Freund*innen davon erzählt habe, fiel es mir enorm schwer, mich zu öffnen. Habe ich doch selten mal jemanden in mein Herz blicken lassen. Es war seit vielen Jahre das erste Mal, dass ich mich wieder so emotional geöffnet und dann auch geweint habe. Etwas was ich vor Freund*innen so gut wie nie tue. Anfangs noch ungewohnt, war es doch so unglaublich befreiend. Ich fühlte mich dabei und danach noch verbundener mit meinen Freund*innen. Weil ich sie an meinen Gefühlen hab teilhaben lassen. Ich habe ihnen meine verletzliche Seite gezeigt und sie haben sie angenommen, mich nicht abgelehnt. Das war eine unglaubliche heilsame Erfahrung. Und seitdem ist die Verbundenheit zwischen meinen Freund*innen und mir noch tiefer.

Nur wer sich verletzlich zeigt, kann wahre Verbundenheit spüren und entwickeln. Besonders trifft das auf die Liebe zu. Da müssen wir uns öffnen, um eine tiefe Beziehung zum Partner zu entwickeln. Nur so kann sich die Liebe entwickeln und auch das Vertrauen zueinander. Gerade in Beziehungen ist es doch so wichtig, sich so zu zeigen wie man ist, mit all seinen Schwächen und Makeln. Denn das ist der sichere Hafen, der mich immer wieder auffängt, wenn es mir nicht gut geht.

Verletzlichkeit ist unabdingbar für die eigene Entwicklung, um voranzukommen. Indem wir uns verletzlich zeigen, beweisen wir Mut und Stärke, nehmen uns an, wie wir sind und können an uns arbeiten.

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