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Begegnungen mit dem (eigenen) Tod


Was hat der Tod mit mir zu tun? In welcher Beziehung stehe ich dazu? Ganz ehrlich: Im Alltag befasse ich mich damit nicht. Will ich auch nicht, weil es unangenehm ist, Angst macht. Weil ich jetzt leben will. Aber der Tod ist immer präsent. Sowie wir auf die Welt kommen, läuft unsere Lebenszeit ab. Manchmal langsamer, manchmal schneller. Er erwischt uns alle einmal. Doch werde ich darauf vorbereitet sein? Wenn der Tod mich ereilt? Oder noch schlimmer: wenn ich die Menschen verliere, die ich über alles liebe?


Eigentlich habe ich mit dem Tod bisher nicht so viel zu tun gehabt. Wobei das vielleicht nicht ganz richtig formuliert ist. Todesfälle gab es einige in meinem Leben. Aber es betraf nie jemanden, der mir wirklich wichtig war. Der mir nahe stand.

An den Tod meines leiblichen Vaters erinnere ich mich gar nicht. Damals war ich noch drei Jahre alt, zu jung, um das alles zu verstehen. Das Traurige ist ja: Ich habe nicht mal Erinnerungen an ihn. Ich weiß nicht mehr, wie er aussah, wie er sich bewegte, wie er sprach und klang, wie er sich anfühlte. Da ist nichts in meinem Kopf geblieben, was mich irgendwie an ihn erinnern könnte. Das ist einerseits vielleicht erleichternd, weil mir Verlust dadurch nicht so klar wird. Aber auch traurig, weil es sich fast so anfühlt, als hätte er in meinem Leben nie existiert. Es sind ja die Erinnerungen, die unser Leben rückblickend ausmachen. Aus den Erinnerungen als Puzzle-Teile setzen wir eben das ganz große Puzzle „Leben“ zusammen. Und wenn da etwas fehlt, scheint es nicht existiert zu haben. Zumindest nicht für mich.

Dass mich sein Tod nicht kalt lässt, habe ich gemerkt, als meine Mutter und ich vor vielen Jahren in Vietnam waren. Damals war ich auch noch klein, aber alt genug, die Erinnerungen dafür bis heute zu behalten. Schweigend knieten wir vor dem Grab meines Vaters. Bis meine Mutter in Tränen ausbrach. Und auch ich musste heftig weinen. Nicht unbedingt wegen des Verlustes meines Vaters, mehr wegen der Trauer meiner Mutter. Es war so als würde ich all den Schmerz meiner Mutter aufnehmen. Das war schon immer so, dass ich mich zu emotional von anderen mitgerissen fühlte. Und besonders bei meiner Mutter fällt es mir schwer, gegen die Tränen anzukämpfen. Es war so, als würde ich das spüren, was sie spürte. Immer noch viel Traurigkeit, obwohl sein Tod inzwischen so lange her war. Der Schmerz saß tief, die alten Wunden wurden aufgerissen. Vielleicht stimmt es doch nicht immer, dass die Zeit alle Wunden heilt?


Meine Beziehung zum Tod

Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hatte ich früher doch eine besondere Beziehung zum Tod. Zwar habe ich durch den Tod niemanden verloren, über den ich wirklich trauern musste. Aber ich hätte mich selbst an den Tod verloren. Es gab in meiner Jugend eine Zeit, in der ich mir regelmäßig wünschte, einfach zu sterben. Ich war depressiv, zumindest glaubte ich das damals und heute. Doch ich kann es nicht mit Gewissheit sagen, war ich nie in Therapie, sodass es auch nie eine Diagnose gab. Aber mein Gefühl sagt mir: Du hast dich damals richtig beschissen gefühlt. So beschissen, dass du nicht mehr leben wolltest. Ich wollte mein Leben beenden. Habe angefangen, mich selbst zu verletzen. Habe darüber nachgedacht, wie ich ohne lange Qual und Schmerzen sterben könnte.

Doch heute weiß ich: Eigentlich wollte ich gar nicht sterben. Ich habe zwar darüber nachgedacht, hätte es aber nie geschafft, mir das Leben zu nehmen. Dafür war ich zu feige. Dafür war der Drang, zu leben, immer noch viel zu stark vorhanden. Ich wusste eigentlich, dass ich nicht sterben will. Oder besser gesagt: mich nicht töten kann. Mein Mut reichte dafür auch einfach nicht aus. Zu groß war die Angst vorm Sterben und dem Tod.

Der Wunsch nach dem Tod war eigentlich ein Hilferuf. Nicht nach dem Tod sehnte ich mich, nein, ich sehnte mich danach, all das Leid zu beenden, das mich fast aufgefressen hatte. Da war so ein tiefes Loch, in das ich gefallen bin. Und ich sehnte mich danach, dass mich etwas oder jemand da rausholte. Ich wollte nicht mehr allein sein, wollte das Gefühl von Einsamkeit nicht mehr spüren. Hoffnungslos, verzweifelt, tieftraurig, ungeliebt, minderwertig, einsam, verloren – das alles sind Worte, die zu mir damals passen. Und doch reichen diese Worte nicht aus, um das alles, was ich durchlebte, zu beschreiben.

Ich wollte nicht verschwinden, ich wollte doch nur, dass all das, was mich bedrückte, endlich weg war. Es war alles in mir drin, in meinem Kopf und meinem Herzen. Ich war dem Kummer und dem Leid so schutzlos ausgeliefert. Es fühlte sich an, als wäre da nichts und niemand, der mich retten könnte. Und dabei wünschte ich es mir so sehr, dass mich jemand davon befreit. Doch eigentlich wusste ich: Nur ich kann mich selbst retten.

Statt mich jemandem anzuvertrauen, Hilfe zu suchen, machte ich alles mit mir selbst aus. Das ist heute noch immer so. Immer wenn keiner da ist, weine ich still vor mich hin. Fresse den Kummer in mich hinein. Das Weinen tröstet mich, danach fühle ich mich besser, Ich will nicht, dass jemand sieht, wie es wirklich in mir aussieht. Und lasse die anderen in den Momenten, in denen ich am verletzlichsten bin, nicht in mein Herz schauen.

Ich war also dem Tode doch näher als so manch anderer, zumindest geistig und emotional, nicht körperlich. Einen Selbstmordversuch habe ich damals nie gewagt. Nur eben gedacht. Aber das reichte schon. Der Gedanke an den Tod schmerzte mich sehr, Nicht weil ich Angst vor dem Sterben oder dem Nicht-Sein hatte. Nein, ich wurde von Trauer überschwemmt, weil ich daran dachte, wie traurig meine Mutter und meine Freunde wären. Ich wollte sie nicht im Stich lassen, zurücklassen, mit vielen Fragen und so viel Kummer. Das konnte und wollte ich ihnen nicht antun.

Der Wunsch zu Sterben ist mir fremd geworden. Viele Jahre des Leids habe ich in mir, habe gekämpft, geweint, gefleht. Aber am Ende habe ich mich tatsächlich selbst gerettet und mein Leben verändert. Ich habe bei mir selbst angefangen, an meiner Einstellung zum Leben. Ich war in der Lage, „Ja“ zum Leben zu sagen. Und wisst ihr, was mir die Kraft dazu gab? Tatsächlich waren es mir geliebte Menschen. Meine Mutter und meine Freunde. Ohne sie wäre ich wahrscheinlich heute nicht mehr da. Ich bin so dankbar, dass sie für mich da waren. Auch wenn sie von all dem heute nichts wissen.

Heute lebe ich und bin glücklich. Und sehr dankbar, dass ich nicht aufgegeben habe. Das Leben ist so schön oder kann zumindest so schön sein. Mein heutiges Ich kann mein damaliges nicht mehr verstehen. Es sind so viele Jahre vergangen, es ist so viel passiert. An Selbstmord mag und kann ich nicht mehr denken. Dafür bin ich momentan einfach viel zu zufrieden. Viel zu sehr mit mir selbst im Reinen. Mein Tod ist danach in weite Ferne gerückt.


Als mein Stiefvater starb

Ein entscheidender Todesfall, der mich dann doch wieder zum Nachdenken brachte, war der meines Stiefvaters. Er war Alkoholiker, hat meine Mutter und mich lange tyrannisiert. Was haben wir doch gelitten. Bis heute mache ich ihn dafür verantwortlich, dass ich ein seelisches Wrack bin. Vergeben konnte ich ihm wahrscheinlich nie, auch als meine Mutter sich von ihm scheiden ließ und er ausgezogen ist. Auch als er vor paar Jahren unerwartet gestorben ist. So viele Jahre lebten wir mit ihm zusammen, für mich war er damals wirklich mein Vater gewesen.

Umso erschreckender war für mich die Erkenntnis: Sein Tod macht mir nichts aus. Ich spüre da nichts, keine Trauer, keine Schuld, kein schlechtes Gewissen. Ich muss dazu sagen, dass ich ohnehin einige Jahre nichts mehr mit ihm zu tun hatte. Kontakt abgebrochen, aus den Augen aus den Sinn. Von einem Tag zum anderen ist er für mich ein Niemand geworden. Ich hatte ihn sauber aus meinem Gedächtnis gestrichen, nicht mehr an ihn gedacht. Obwohl ich während der Scheidung und als er ausgezogen ist, lange damit gerungen habe. Ich wollte, dass meine Eltern zusammen bleiben. Gleichzeitig wusste ich: Das wird nichts mehr. Es gibt eben keine Rettung mehr. Er wollte sich nicht verändern. Wir wollten uns aber auch nicht länger kaputt machen lassen. Meine Mutter zog den Schlussstrich.

Als er dann wirklich komplett verschwand, spürte ich nichts weiter. Ich musste nicht weinen, wollte nicht trauern. Weil es nichts gab, worüber ich trauern konnte? Zurück blieb eben nur ein Unbehagen. Die negativen Erinnerungen an ihn und mit ihm haben sich in mein Gedächtnis gebrannt. All das Positive, was es schließlich auch gab, das war einfach nicht mehr da. Ich hätte mir gewünscht, mich mit ihm auszusöhnen, inneren Frieden zu finden. Doch dafür war es dann doch zu spät. Vielleicht werde ich in der Zukunft einmal wirklich in Frieden Abschied von ihm nehmen. Und dann hoffentlich auch die traumatischen Erinnerungen von damals endlich verarbeiten.

Lange Zeit hatte ich mich seitdem nicht mehr mit dem Tod befasst. Er war ganz weit weg, als ob es ihn gar nicht geben würde.


Der Tod rückt immer näher

Doch vor einem Jahr habe ich mich dann doch wieder mehr damit befasst. Zu der Zeit sind so viele Menschen in meinem Umfeld gestorben, die ich zumindest kannte, die ich mochte. Aber es fehlte etwas Entscheidendes, über sie zu trauern: enge Bindung. Es waren Menschen, die mir nicht so wirklich nahe standen.

Seitdem ist wieder einige Zeit vergangen. In der Zeit habe ich einen anderen Zugang zu den Themen Tod, Sterben und Trauern gewonnen.

Denn ich habe mich entschieden, ehrenamtliche Sterbebegleiterin zu werden. Die Idee, das mal anzufangen, war immer da. Es reizte mich. Aber so richtig klar war mir gar nicht, warum. Vielleicht weil ich selbst eine besondere Beziehung zum Tod hatte. Oder weil ich selbst noch keinen krassen Trauerfall in meinem Leben hatte. Es ist so widersprüchlich: Einerseits berührt mich Tod und Sterben ja emotional doch sehr, weil ich meine eigene Geschichte dazu habe. Andererseits fehlt mir doch der Bezug dazu, weil ich noch nie eben so einen Trauerfall hatte. Noch nie einen Menschen verloren habe, über den ich wirklich trauern müsste.

Tod und Sterben hat mich nie wirklich losgelassen. Immer mal wieder dachte ich darüber nach, was wäre, wenn ich jemand wichtigen verlieren würde. Ganz oft dachte ich dann an meiner Mutter. Was wäre, wenn meine Mutter stirbt? Schon allein der Gedanke daran, ließ mich zittern, die Tränen kamen ganz automatisch. Nein, das will ich nicht, war mein erster Gedanke. Damit komme ich nicht klar, das ist zu viel. Und außerdem: Es ist noch nicht soweit. Das ist noch kein Thema, darüber sollte ich jetzt nicht nachdenken. Es reicht, wenn ich darüber nachdenke, wenn es soweit ist. Und so schnell wie die Tränen kamen, so schnell verdrängte ich das Thema wieder.

Was soll ich sagen: So geht es vermutlich vielen von uns. Der Gedanke an den Verlust geliebter Menschen schmerzt schon jetzt, obwohl es noch nicht mal real geworden ist. Wie wird es dann aber sein, wenn es wirklich passiert? Dann muss ich mich damit befassen. Dann kann ich nicht mehr wegschauen. Dann kann ich nicht hoffen, dass das alles nur ein Alptraum ist und alles wieder gut wird. Nein, dann muss ich das akzeptieren. Und dann muss ich mich meinen Gefühlen, Ängsten und meinem Kummer stellen.

Aber ist es dann nicht vielleicht schon zu spät? Wird es dann nicht vielleicht unerträglich werden? Werde ich damit zurechtkommen? Wie geht eigentlich trauern? Oder vielleicht daran zugrunde gehen?

Wir schieben den Tod so lange vor uns weg, bis es nicht mehr geht. Bis wir jemanden eben wirklich verlieren oder selbst sterben. Und dann trifft es uns wie ein Schlag ins Gesicht: Es ist vorbei und es gibt kein zurück mehr. Doch wir stehen da, ganz ratlos und wissen nicht, was wir tun sollen.


Irgendwann sterben wir alle

Für mich ist mein eigener Tod so unerreichbar. Ich gehe davon aus, dass ich noch viele Jahre, Jahrzehnte leben werde. Natürlich muss das nicht sein. Wir wissen heute nicht, was morgen sein wird. Wer weiß, vielleicht werde ich ja demnächst schwer krank. Oder ich werde von einem Auto erfasst. Kann alles sein. Der Tod ist eben überall. Ich will auch gar nicht wissen, wann es soweit ist. Denn dann wüsste ich es und könnte mein Leben nicht mehr so genießen. Denn ich hätte immer die Angst im Nacken, immer diese Furcht vorm Tod, die Gewissheit, wann ich sterben werde. Ich würde nur noch die Tage, Wochen, Monate und Jahre zählen. Dann wäre ich wirklich Pessimist und würde das Glas nur noch halb leer als halb voll sehen.

Da ich noch jung bin, will ich den Tod gar nicht näher an mich heranlassen. Ich will doch leben und mich nicht mit meinem Ende befassen. Darum habe ich wahrscheinlich all die Jahre nach meiner Depression auch nie mehr so danach gedacht. Wollte verdrängen, dass es irgendwann vorbei sein wird. Wollte das nicht wahrhaben. Aber das ist alles nur Selbstbetrug. Und das tut dann eben besonders weh, wenn man merkt: Der Tod kann so schnell kommen und dich und andere aus dem Leben reißen. Und dann stehst du da und fühlst dich verloren.

Ich dachte im letzten Jahr viel mehr über Tod und Sterben nach und kam zu dem Entschluss: Ich will die Augen nicht mehr länger davor verschließen. Will das Thema nicht weiter verdrängen. Tod und Sterben gehören zum Leben dazu. Es macht es nicht besser, wenn wir darüber schweigen und so tun, als gäbe es das alles nicht. Am Ende wird es nur schwerer, damit umzugehen, wenn man sterben wird oder ein anderer Mensch, der mir nahe steht.

Darum will ich auch ehrenamtliche Sterbebegleiterin werden. Ich will mich mit Tod, Sterben und Trauern befassen. Um einfach das, was mir so fremd ist, kennenzulernen. In der Hoffnung, vielleicht keine so große Angst zu spüren oder besser damit umzugehen. Ich weiß, Angst werde ich haben und natürlich werde ich deswegen nicht weniger um andere trauern, nur weil ich bereits „Erfahrungen“ damit gemacht habe. Das ist die eine Sache.

Ich möchte außerdem anderen Menschen auch helfen, ich möchte ihnen Trost schenken, ihnen die letzte Zeit ihres Leben so schön und würdevoll wie möglich gestalten. Ich möchte Menschen auf ihrem letzten Weg unterstützend begleiten. Einfach nur da sein, Zeit, Wertschätzung und Wärme schenken. Mehr braucht es vielleicht auch nicht: Das Gefühl zu geben, dass da jemand für einen ist, wenn man stirbt.

Ich habe trotzdem auch Ängste: Angst davor, nicht damit klarzukommen, mich emotional nicht abgrenzen zu können, Angst davor, nicht loslassen zu können. Vielleicht wird mir das alles auch zu viel. Wer weiß?

Aber ganz sicher werde ich daran wachsen, etwas für mich mitnehmen. Meine eigenen Grenzen austesten, erweitern. Vielleicht werde ich dann auch etwas anders auf Tod und Sterben schauen. Und vielleicht werde ich dann doch besser damit umgehen können, wenn ich andere Menschen verliere oder selbst sterben werde.

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